"Niederungen" der Tageskritik

Über Wolfgangs Albrechts systematische Einführung in die deutschsprachige Literaturkritik

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literaturkritik, glaubte noch Robert Musil, das sei "Ausdeutung der Literatur, die in Ausdeutung des Lebens übergeht und eifersüchtige Wahrung des erreichten Standes." Das wird heute niemand mehr ernsthaft behaupten wollen, ohne zumindest rot zu werden. Dominieren nicht längst Kritiksurrogate wie Kurzrezensionen, Solo- oder Gruppenauftritte bekannter Kritiker im Fernsehen, Bestsellerlisten, ebenso Buchtipps von Politikern oder Tennisspielern oder gar, siehe den Online-Buchhändler "amazon.de", "Kundenrezensionen"?

Gar so schlimm steht es freilich nicht: Auch und gerade heute steht jenen Schwundstufen der Literaturkritik vor allem in der überregionalen Presse, mitunter sogar im Rundfunk oder Fernsehen, neuerdings aber auch im Internet, ein vielstimmiges und sogar immer umfangreicher werdendes Rezensionswesen gegenüber. Seine tatsächliche Bedeutung für das gesellschaftliche Subsystem Literatur, allem Gerede vom "Zirkulationsagenten" (Enzensberger) zum Trotz, würde sich erst zeigen, gäbe es diese Kritik plötzlich nicht mehr. Von dem Kritiker Gustav Seibt wurde folgende Hochrechnung erstellt: "In der Presse und im Rundfunk deutscher Sprache erscheinen Tag für Tag über 40 Rezensionen - weit mehr als 10.000 im Jahr. Allein die großen Blätter wie F. A. Z., Süddeutsche Zeitung oder Die Zeit besprechen jährlich mehr als 1000 Bücher." Nimmt man die neuen Rezensionsforen im Internet hinzu, dürfte die Zahl um einiges höher ausfallen.

Um so erstaunlicher, dass es an Einführungen und systematischen Überblicksdarstellungen zur deutschsprachigen Literaturkritik (die sich, anders als die "literary criticism" im angelsächsischen bzw. die "critique littéraire" im französischen Raum, durch eine institutionelle Trennung von der Literaturwissenschaft auszeichnet) mangelt. Literaturkritik wird von der Literaturwissenschaft noch immer stiefmütterlich behandelt, besonders dort, wo es um die Feuilleton- oder Tageskritik geht. Wolfgang Albrecht hat mit einer "reihenspezifischen Einführung" diese Lücke, soweit dies auf 150 Textseiten möglich ist, fürs erste geschlossen. Konzipiert für eine "praxisorientierte Germanistik", minimiert Albrecht in seiner Darstellung wohltuend den der "Höhenkamm"-Kritik (also z. B. Walter Benjamin, Theodor W. Adorno usw.) gewidmeten Anteil, die bislang von der Forschung bevorzugt fokussiert wurde. Mit Recht akzentuiert Albrecht die mediale Einbindung der Kritik: "Heutige journalistische Literaturkritik ist integraler Bestandteil eines medienübergreifenden Kulturjournalismus". Der Blick richtet sich somit weniger auf quasi-literarische Texte kanonisierter Essayisten und mehr auf die "Niederungen" der Tageskritik. Damit dürfte Albrecht einen neuen Trend in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser literaturvermittelnden Institution markieren.

Die Darstellung beschränkt sich auf die deutschsprachige Literaturkritik seit 1945 (also einschließlich der DDR) und blendet somit verwandte Bereiche wie z. B. Theater-, Film- oder Fernsehkritik aus. Fokussiert werden systematische Gesichtspunkte wie "Spezifik und Funktionsbestimmungen gegenwärtiger Literaturkritik" (so der Titel des ersten Teils), wobei sich Albrecht primär auf diverse Einzeluntersuchungen stützt, was seinem Buch über weite Strecken den Charakter eines Forschungsberichts verleiht, der sich aber bemüht, eigene Akzente zu setzen. Erläutert werden zunächst die soziokulturellen Einbindungen der Literaturkritik, also ihre konfliktreiche Stellung innerhalb des literarischen Systems mit ihren literaturvermittelnden Bezügen zu Autor, Lesepublikum, Verlag, Buchhandel usw., wozu auch kommunikationssoziologische Aspekte wie die "gatekeeper"-Funktion der Kritik gehören. Aber auch berufsspezifische Aspekte wie Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten werden an dieser Stelle berücksichtigt (Stichwort: Praxisorientierte Germanistik). Skizzenhaft vorgestellt werden die Medien bzw. Kommunikationsmittel dieser öffentlich literaturvermittelnden Institution, als da wären Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk, Fernsehen und, immer wichtiger werdend, das Internet mit neuartigen Rezensionsforen wie "literaturkritik.de" oder Kulturmagazinen wie "perlentaucher.de". Diskutiert werden die diversen (gesellschaftlichen, kommunikativen, ästhetisch-didaktischen, Werbe-)Funktionen und Ziele der Literaturkritik. Einzelaspekte, wie die im 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum herrschenden Strömungen und Richtungen der Kritik von der neokonservativen Richtung bis zur feministischen Literaturkritik, Sonderbereiche, wie die Kritik von Kinder- und Jugendliteratur und von Übersetzungen sowie medienübergreifende und -spezifische Formen, Textsorten und Präsentationsweisen wie Rezension, Glosse, Essay, Autorenporträt, Feature usw. werden schlaglichtartig beleuchtet, Grundsätzliches zu Sprache und Stil der Kritik sowie zu ihren Methoden, Kriterien und Wertmaßstäben wird knapp, aber kompetent vermittelt.

Als erste einführende Darstellung ihrer Art bietet Albrecht mit einer Fülle an Informationen, Hinweisen und Orientierungshilfen für den Literaturwissenschaftler einen nützlichen Überblick. Gerade die Kompilation der bislang vorliegenden Forschungsergebnisse und -thesen zu einzelnen systematischen Aspekten wie literaturkritische Textsorten, Funktionen oder die Abgrenzung der Kritik von der Literaturwissenschaft erweist sich als hilfreich und auf der Höhe des Forschungsstands. Ebenso lobenswert wie im Kontrast erhellend sind auch die vielen Seitenblicke auf die vergangenen Verhältnisse in der "Lesegesellschaft" DDR. Wohltuend aufgeschlossen zeigt sich Albrecht bei seiner Behandlung aktueller Tendenzen der Literaturkritik z. B. in den Neuen Medien: "Allemal wird sich in absehbarer Zeit erweisen, ob die Publikumsresonanz auf die bisherigen einschlägigen Angebote im Internet den Anfangsreiz eines neuen Mediums überdauert, d. h. ob sich hier eine verbreitete Beziehungslosigkeit der neueren Literaturkritik zu ihrer Leserschaft überwinden und somit eine traditionsreiche Mittlerfunktion der Kritik zeitgemäß innoviert wiedergewinnen lässt."

Freilich zeichnet sich das Buch, wohl nicht zuletzt aufgrund des reihenbedingt knappen Umfangs, auch durch Lücken aus: Nur bedingt hilfreich ist etwa die Bibliographie, die zu systematischen Aspekten (Einzelprobleme, Kritikformen usw.) viel, zu einzelnen Kritikern und literaturkritischen Medien nur wenige Hinweise bietet. Auffallend defizitär zeigt sich das Buch da, wo bereits wegweisende Monographien vorliegen: neben dem bereits erwähnten historischen Abriss ist hier vor allem das Kapitel zu Urteilskriterien und Wertmaßstäben problematisch, ein Thema, zu dem Renate von Heydebrand und Simone Winko in "Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik - Geschichte - Legitimation" (1996) Grundlegendes geleistet haben. Dennoch dürfte Albrechts Einführung mit ihren Hinweisen auf Forschungsdesiderata wie die berechtigte Klage über das Fehlens eines "dem heutigen Forschungsstand und Problembewusstsein sowie Methodendiskurs entsprechende[n] Handbuch[es], das alle zum Themenbereich `institutionalisierte (journalistische) Literaturkritik im Medienzeitalter´ gehörigen Einzelheiten darlegt und die nötigen historischen Rückblicke einbezieht", oder darüber, dass "man bislang noch nicht systematisch genug die literaturkritische Tagespraxis untersucht [hat], die sich in zunehmender Breite neben den bislang kanonisch berücksichtigten Zeitungen und Zeitschriften [...] entwickelte", der Erforschung der deutschsprachigen Literaturkritik doch zahlreiche neue Impulse geben.

Titelbild

Wolfgang Albrecht: Literaturkritik.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001.
190 Seiten, 13,19 EUR.
ISBN-10: 3476103382

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