Vergegnung

Wilfried Barner untersucht die schwierige Konstellation "Goethe und Lessing"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verhältnis von Lessing und Goethe trägt fast surreale Züge. Beide wirkten an deutschen Fürstenhöfen. Der eine in Weimar, der andere zuletzt in Braunschweig-Wolfenbüttel. Und auch wenn Goethe zwanzig Jahre jünger war als Lessing, gab es eine gemeinsame Zeitspanne von nahezu zehn Jahren dichterischer Tätigkeit. Und doch sind sie sich nie begegnet, haben auch nie miteinander korrespondiert. Bezeichnend ist die Bemerkung Goethes, am 20. Februar 1781 gegenüber Charlotte von Stein, wenige Tage nach Lessings Tod: "Mir hätte nicht leicht etwas fatalers begegnen können als daß Lessing gestorben ist. Keine Viertelstunde vorher eh die Nachricht kam macht ich einen Plan ihn zu besuchen. Wir verliehren viel viel an ihm, mehr als wir glauben." Nach den Sitten der Zeit wäre es ohnehin Aufgabe Goethes gewesen, das Gespräch mit dem erfahreneren und älteren Dichter zu suchen. Doch Goethe, der weit reichende Verbindungen zu vielen geistigen Größen seiner Zeit pflegte, nahm den Kontakt zu Lessing nie auf, und es ist mehr als fragwürdig, ob er den Plan, den er Charlotte von Stein mitteilte, wirklich in die Tat umgesetzt hätte. Gelegentliche Höflichkeitsfloskeln des Jüngeren gegenüber dem Älteren können nicht darüber hinweg täuschen, dass ihr Verhältnis von gegenseitiger Abneigung bestimmt war. Dem etablierten Weimarer Geistesaristokraten dürfte die unstete intellektuelle Lebensform des Theaterdichters und Kritikers ein Gräuel gewesen sein. Entsprechend deutlich fiel die Abgrenzung Goethes gegenüber Lessing aus, wie eine vertrauliche Mitteilung Goethes an Eckermann erhellt: "Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach, am liebsten in den Regionen der Widersprüche und Zweifel auf, das Unterscheiden ist seine Sache, und dabei kam ihm sein großer Verstand auf das herrlichste zustatten. Mich selber werden sie dagegen ganz anders finden; ich habe mich nie auf Widersprüche eingelassen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen versucht, und nur die gefundenen Resultate habe ich ausgesprochen." (11. 4. 1827)

Das schwierige Verhältnis der beiden Dichter zeichnet Wilfried Barner in einem von der Lessing-Akademie im Rahmen der "Kleinen Schriften zur Aufklärung" herausgegebenen Band nach, der großzügig und ansprechend illustriert ist. Die Spannungen zwischen den Autoren deutet Barner als stellvertretend für den Konflikt zweier Generationen von Literaten, der sowohl durch Lessings deutliche Absage an den zeitgenössischen Geniekult wie auch durch Goethes kritische Distanz gegenüber einigen bereits etablierten Autoren genährt wurde. Auch die persönliche Konkurrenz der beiden jeweils mit einer "Faust"-Dichtung befassten Schriftsteller bezieht Barner in seine Interpretation mit ein. Unter Rekurs auf Begrifflichkeiten Bourdieus nimmt er vor allem die "historische Konfiguration" der Beziehung der beiden großen 'Nationalautoren' des 18. Jahrhunderts in den Blick. Sein "auswählender Versuch faßt die biographisch-personalen Aspekte [...] ins Auge und läßt die wichtigen expliziten Äußerungen Goethes über Lessing - mit Ausblicken auf die 'andere Seite' zu Wort kommen. Er bemüht sich jedoch darüber hinaus, im Sinne von Goethes eigenem Konzept in "Dichtung und Wahrheit" die 'Zeitverhältnisse' klarer hervortreten zu lassen, insbesondere die personalen Konstellationen."

Was sich auf der Bühne und in der Gesellschaft als epochaler Konflikt erst im 19. und 20. Jahrhundert abspielen sollte, offenbarte sich bereits vorher in der persönlichen Konstellation Goethe-Lessing. Barner unterstreicht, dass der junge Goethe "so etwas wie produktiven Respekt vor dem wirkungssicheren Theaterkönnen Lessings" beweist. Dabei ist, worauf er zu Recht insistiert, zwischen verschiedenen Urteilen aus der Spätzeit - vor allem aus dem Siebenten Buch von "Dichtung und Wahrheit" (1811/12) und aus diversen "Gesprächen" - und solchen des jungen Goethe deutlich zu differenzieren. Dabei ist eine erste Feststellung elementar: "Während für den jungen Goethe Lessing von früh an eine nicht zu umgehende Orientierungsgestalt seiner Poeten-Karriere darstellt, taucht für Lessing der Name Goethe erst relativ spät, in seinem letzten (Wolfenbütteler) Lebensjahrzehnt, am literarischen Horizont auf. [...] Nimmt man einmal den "Komplex Emilia Galotti" (Uraufführung März 1772) aus, so befindet sich Lessing in den ersten Wolfenbütteler Jahren, anders als in Leipzig, Berlin und Hamburg, vorübergehend weniger in der Rolle eines ständig präsenten 'Beiträgers' zur aktuellen literarischen Produktion als in der eines skeptischen Beobachters der belletristischen Szene", was sich vor allem an Lessings distanzierter Haltung gegenüber Goethes "Götz von Berlichingen" ablesen lässt, die von Entsetzen über das sich breit machende theatralische "Unwesen" bestimmt ist, das in ihm "Ekel" erzeuge. Hierzu Barner: "Zur skeptischen Beobachtung des belletristischen Genietreibens [...] tritt [bei Lessing] die zunehmende Aversion gegen die Weise, wie diese junge Generation mit dem Drama, mit dem deutschen Theater Schindluder treibt."

Im Gegensatz dazu mokierte sich Goethe noch im Jahre 1827 in einem hämischen Rückblick darüber, dass Lessing "in einer so erbärmlichen Zeit leben mußte, die ihm keine besseren Stoffe gab, als in seinen Stücken verarbeitet sind! - Bedauert ihn doch, daß er in seiner 'Minna von Barnhelm' an den Händeln der Sachsen und Preußen teilnehmen mußte, weil er nichts Besseres fand! - Auch daß er immerfort polemisch wirkte und wirken mußte, lag in der Schlechtigkeit seiner Zeit. In der 'Emilia Galotti' hatte er seine Piken auf die Fürsten, im 'Nathan' auf die Pfaffen." Lessings Reaktionen waren zunächst zurückhaltend und beschränkten sich auf kleine Bosheiten, etwa wenn er bemerkte, dass Goethe, "wenn er je zu Verstande käme, [...] nicht viel mehr als ein gewöhnlicher Mensch" wäre. Die demonstrative Gelassenheit verschwand allerdings, als 1774 jener Roman Goethes erschien, der den Namen des damals 25-jährigen Autors in der Welt bekannt machen sollte. Die Veröffentlichung der "Leiden des jungen Werthers" markiert den Höhepunkt des Ruhms Goethes zu seinen Lebzeiten. Das Lager der Rezensenten teilte sich in zwei Gruppen. Die einen, die sich mit der Masse der Leser einig wussten, lobten überschwänglich die für die deutsche Literatur ungewöhnliche Gefühlsdichte, die anderen, zum Teil der Aufklärung, zum Teil christlicher Sittenstrenge verpflichtet, warfen dem Verfasser Verantwortungslosigkeit gegenüber der Jugend vor. Friedrich Nicolai wählte bekanntlich einen dritten Weg und versuchte, die heilige Gefühlssache zu glossieren. In seiner Parodie "Die Freuden des jungen Werthers" wird die Pistole mit Hühnerblut geladen, und nach dem Schuss kommt der Held zwar besudelt, aber unverletzt wieder zu sich.

Lessings Kommentar zum "Werther" fiel wesentlich bitterer aus: "Also, lieber Goethe, noch ein Kapitelchen zum Schlusse; und je cynischer je besser!" In der Tat hatte Goethe im Schlussteil seines Romans eine Spur gelegt, die Lessings geistige Mitverantwortung für die Tragik des jungen Werther nahe legt. Nach der drastischen Schilderung der Tat und des Todeskampfes des Unglücklichen findet sich der folgenschwere Hinweis: "Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen." Die hier von Goethe suggerierte Verbindung zwischen Lessings Drama und dem "Werther" musste den Dichter der Aufklärung in doppelter Weise peinlich berühren. In ästhetischer Hinsicht erschien ihm Goethes Roman als bedauernswerter Rückfall in die Gefühlswelt des antiaufklärerischen 'Sturm und Drang'. Während er selbst in der "Emilia Galotti" Liebe, Tod und Generationenkonflikt in den Dimensionen antiker Tragik angelegt hatte, erinnerte ihn Goethes Empfindsamkeitskult an die oberflächliche Sentimentalität des Pietismus. Dem steht auch der Topos innerhalb des 'Sturm und Drang' gegenüber, "Emilia Galotti" sei das Werk des kontrollierenden Verstandes, dem es an poetischer Zauberkraft fehle. Das Urteil, das der junge Goethe Herder gegenüber äußert, wird zu einem Leitwort der Kritik: Alles an dem Stück sei "nur gedacht".

Lessings Vorwurf des "Zynismus" ging jedoch über die Literaturkritik hinaus und zielte auf Goethes Moral. Von Eingeweihten wurde der "Werther" nämlich als Schlüsselroman gelesen, wobei die Form des Briefromans den Eindruck der Authentizität verstärkte. Die von Goethe geschilderte Leidensgeschichte des "armen Werther" war mit dem realen Schicksal Karl Wilhelm Jerusalems zu 'Dichtung und Wahrheit' verwoben. Lessing war, wie unter anderem der Schriftsteller Christian Felix Weiße berichtet hat, "gegen die Leiden des jungen Werther" in höchstem Maße "aufgebracht" und erklärte, "der Charakter des jungen Jerusalems wäre ganz verfehlt". Als ihm Nicolai im Januar 1775 seine Parodie über die "Freuden" des Werther übersandte, wurde auch Lessing zur Planung eines satirischen Stücks angeregt. Doch über ein paar einführende Zeilen unter dem Titel "Werther, der bessere" kam er nicht hinaus. Stattdessen bereitete er noch vor seiner Italien-Reise eine Edition der philosophischen Aufsätze Jerusalems vor, die in der Wolfenbütteler Zeit nach gemeinsamer Lektüre und Diskussion von Moses Mendelssohns "Phaedon" entstanden waren. Aus Lessings Bemerkung gegenüber dem Kantianer Marcus Herz, dass er "Jerusalems Betrachtungen nicht mit einer zu scharfen Waage aufziehen" wollte, geht hervor, dass er den Unglücklichen nicht als großen Philosophen repräsentieren, sondern lediglich vom "Werther"-Etikett des "empfindsamen Narren" befreien wollte. Wenn er an Jerusalems Aufsätzen "den Geist der kalten Betrachtung" hervorhob, dann war das ein eindeutiger Verweis auf die Schule der aufklärerischen Vernunft, auf die Vorbilder Leibniz und Wolff. Und es lässt sich tatsächlich belegen, dass Jerusalem im Jahre 1770 in der Wolfenbütteler Bibliothek zu den eifrigsten Ausleihern der 1768 neu erschienenen Genfer Leibniz-Ausgabe gehörte.

Die Konstellation Goethe - Lessing ist um 1774/75, darauf weist Wilfried Barner mit vollem Recht hin, nicht nur durch den Altersunterschied gekennzeichnet, sondern primär "durch völlig konträre Lebensformen und soziale Rollen auf der literarischen Bühne. Dem angesehenen 'gelehrten' Schriftsteller und Bibliothecarius in Wolfenbüttel steht ein junges 'Genie' gegenüber, das zugleich eine junge, aufstrebende, sich als Avantgarde verstehende Gruppe repräsentiert. Es gibt auch charakteristische Asymmetrien, was die literarischen Teilfelder angeht. Lessings etablierte Position als Kritiker, die der junge Goethe einkalkulieren muß, hat bei diesem kein Äquivalent. Und das Genie wiederum erobert im Bereich einer Gattung, der gegenüber Lessing eher Enthaltsamkeit übt, binnen kurzer Zeit ein neues Publikum."

Schon aus Goethes Ausgrenzung Lessings als Polemiker, der sich "am liebsten in den Regionen der Widersprüche und Zweifel" aufhalte, spricht die Arroganz der machtgeschützten Innerlichkeit. In Goethes Augen ist Lessing hier an Prozessformen der literarischen Kultur beteiligt, die er nicht billigt. Unüberhörbar setzt er Lessings polemischen Neigungen seinen eigenen modus vivendi diagnostizierend entgegen: "Ich habe mich nie auf Widersprüche eingelassen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen gesucht." In Deutschland, wo polemische Literatur es immer schwer hatte und die Vorstellung von idealer Kunst mit Verklärung und Überhöhung identisch war, musste ein Attest der Abweichung von der Norm, wie Goethe es Lessing ausstellte, einem folgenschweren Verdikt gleichkommen. In diesem Zusammenhang gehen, wie Barner hervorhebt, "objektivierbare Konstellationen des literarischen Feldes und individuell-personale Relationen kaum trennbar ineinander. Lessing stellte für Goethe früh eine zu respektierende Machtgröße dar, eine theatralische, vor allem auch eine kritische und - im fließenden Übergang - polemische. Es gelang Goethe nicht, sie zumindest partiell den eigenen Zwecken des aufsteigenden Genius dienstbar zu machen." Das Verhältnis der beiden deutschen Dichter kennzeichnet Wilfried Barner schließlich mit dem von Martin Buber geprägten - allerdings nur sekundär bei Ernst Simon bezeugten und auf das Verhältnis von "Deutschtum und Judentum" applizierten - Begriff der "Vergegnung". Es lässt sich wohl kaum treffender beschreiben.

Titelbild

Wilfried Barner: Goethe und Lessing. Eine schwierige Konstellation.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
56 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3892444080

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