Die chaotische Abrechnung der verspäteten Hyänen

Musikwissenschaftler arbeiten die nationalsozialistische Vergangenheit ihres Fachs im Einzelkampf auf

Von Joachim LandkammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Landkammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich muss die Behauptung, dass die Musik die "deutscheste aller Künste" sei, wie Thomas Mann es 1949 in der "Entstehung des Doktor Faustus" formuliert hat und wie ein wichtiges Buch von Pamela Potter über die Verstrickungen der deutschen Musikwissenschaft mit dem Nationalsozialismus betitelt ist, nicht unbedingt als Anspruch auf hegemoniale Vereinnahmung der Musik durch den deutschnationalen Kulturchauvinismus verstanden werden. Das Diktum könnte auch einfach nur auf den kaum Widerspruch hervor rufenden Fakt anspielen, dass es Künstlern im deutschen Sprachgebiet noch am ehesten gelungen ist, zu dem heute immer noch (international) als gültig wahrgenommenen Kanon der klassischen E-Musik beizutragen, während ihnen andere Kunstformen vom "Nationalcharakter" - bzw. besser: von den kulturgeschichtlichen Voraussetzungen - her ferner lagen. Als einen realhistorischen Grund kann man hier, anstatt die "deutsche Seele" zu bemühen, auf das irr- bzw. überrationale einheits- und gemeinschaftsstiftende Potential der Musik verweisen, das in den politisch und sozial parzellierten deutschen Landen zumindest eine temporäre, rauschartige Erlösung aus der kleinstaatlichen Misere und der provinziellen Unterentwicklung versprach. Dass der Musik in der "verspäteten Nation" eine besondere Funktion zukam, musste aber nun fast notwendigerweise den Fehlschluss fördern, dass die Musik als solche eine deutsche Angelegenheit und nur in der germanozentrisch politisierten, staatstragenden bzw. gemeinschaftsbildenden Form zu existieren habe (etwa so, wie der Mond, nach Christian Morgensterns ironisch-hintergründigem Gedicht, dadurch dass seine Phasen sich den (alt-)deutschen Schriftzeichen "anbequemen", als "ein völlig deutscher Gegenstand" zu vereinnahmen ist).

Und wenn es erst einmal eine ausgemachte Sache ist, dass die Musik den Deutschen, im Vergleich zu anderen Nationen, "etwas anderes, Tieferes, Heiligeres" bedeutet, dass sie eine "Staatsangelegenheit" und eine "Sache auf Tod und Leben" ist (wie Hans Joachim Moser 1941 in der "Deutschen Sängerbundeszeitung" verlautbarte), liegen die Anschlussstellen offen, über die eine solche pathetische Anschauungsweise dann die organisatorische und kriminelle Energie des Nationalsozialismus absorbieren und mit dessen Vorstellungswelt so zusammenfließen kann, dass stellenweise schwer zu entscheiden ist, wer hier wen unterstützt, wer hier wessen "Spiel" mitspielt, wer wem "nützt" und wer wen "ausnutzt" und "missbraucht".

Insofern könnte einer der Gründe, warum die "verspätete Disziplin" Musikwissenschaft (A. Gerhard) sich erst relativ spät, nämlich erst in den letzten Jahren, zur Aufarbeitung ihrer Fachgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus entschließt, - neben den allzu menschlichen Motiven der angesehenen erst-NS-dann-BRD-Akademiker -, auch der sein, dass man in wörtlichem Sinn nicht genau weiß, "wo man anfangen soll": Die quasi-naturgegebene Affinität (die wichtige Ausnahmen natürlich nicht ausschließt) von deutschem Musikverständnis und einigen späteren NS-Ideologemen gibt es schon lange vor 1933. Andererseits kann ein großer Arbeitsbereich akademischer Musikwissenschaft, nämlich die musikalische Quellenforschung und -edition, relativ unbehelligt und unbeschadet durch die politischen Systemwechsel des 20. Jahrhunderts dümpeln. Naturgemäß von größerer politischer Brisanz sind die Veröffentlichungen, die einen Aktualitätsbezug beanspruchen müssen: Stellungnahmen zur "Neuen Musik" oder Geschichtswerke, die eine gegenwartsgeprägte und deswegen (?) oft national verengte Sicht auf die Vergangenheit vermitteln, oder aber die (mehr oder weniger) wissenschaftlichen Nachschlagewerke, die den state of the art der Forschung darstellen sollen.

In der hier zu besprechenden Aufsatzsammlung, die die Vorträge der Tagung "Musikwissenschaft im Nationalsozialismus und in faschistischen Regimen" im März 2000 auf Schloss Engers wiedergibt, wird man zu all diesen Themen etwas finden. Freilich nicht allzu Vieles und nicht allzu viel wirklich Neues. Und bevor man überhaupt etwas findet, muss man sich einen Weg durch mehr als 500 Seiten eher ungeordneter Materie bahnen: die Herausgeber, als die namentlich Isolde von Foerster, Christoph Hust und Christoph-Hellmut Mahling firmieren, haben es weder für nötig gehalten, die 32 (!) Aufsätze nach erkennbaren Themenfeldern zu ordnen, noch dem Band ein Sach- oder wenigstens ein Personenregister beizugeben. (Auch über die Biographien der Beiträger und deren institutionellen Zugehörigkeiten wird der outsider der musikwissenschaftliche Szene im unklaren gelassen).

Der Eindruck, den man aus der Lektüre der in relativ willkürlicher Reihenfolge zwischen zwei Buchdeckel gepressten Vortragsmanuskripte gewinnt, bleibt folglich entsprechend konfus und fragmentarisch. Um ein wenig freundliches und überspitztes Bild zu gebrauchen: als ob sich Hyänen oder Aasgeier auf den leblosen und relativ übelriechenden Leichnam "Musik im NS" stürzten, und jeder versuchte, sich in je eigener Richtung ziehend einen kleinen Fetzen der schwerverdaulichen Materie zu sichern, womöglich mit der Behauptung, dass er selbst das beste und wichtigste Stück erwischt habe, und vor allem: das "frischeste", das "noch lebendigste": immer wieder wird auf das Über- und Weiterleben von aus der Zeit des NS stammenden musikwissenschaftlichen Restbeständen hingewiesen und deren bis heute nicht geschehene gründliche Entsorgung, sprich "Aufarbeitung" beklagt. Und wie wenn mit dem Erwischen eines solchen Aas-Happens schon das Wesentliche geleistet wäre, begnügen sich die meisten Beiträge mit dem bloßen Zusammentragen von Fakten und üben ansonsten große Zurückhaltung bei der interpretierenden Einordnung in größere Zusammenhänge.

Nun könnte man Vielfalt der Themen, Pluralismus der Meinungen und nüchterne Darstellung objektiver Tatsachen auch als Positiva gelten lassen; hier aber ergeben sich, wohl auch wegen unterbliebener redaktioneller Arbeit, überflüssige Überschneidungen und Verdopplungen ebenso wie ein chaotisch-undurchsichtiges Durcheinander der Beiträge, aus dem sich nur schwer ein Gesamtbild zusammenpuzzeln lässt.

Einige der wahrnehmbaren unterirdischen Themenstränge seien versuchsweise trotzdem genannt: mehrere Beiträge weisen gemäß der einfangs angedeuteten Ausgangslage nach, welche mentalitätsgeschichtlichen Kontinuitäten von vornherein eine Nähe zumindest bestimmter Richtungen der deutschen Musikwissenschaft zum NS-Gedankengut und zu den von ihm veranlassten Maßnahmen (Ausgrenzung der "jüdischen Musik") herstellten, so dass es oft gar keines besonderen Opportunismus oder spezieller Wendehalsigkeit bedurfte, um mit den neuen Machthabern einvernehmlich zu handeln (vgl. die Aufsätze von Pape und Schmid). Manche Beiträge sind mehr oder weniger prominenten Einzelpersönlichkeiten gewidmet und zum Teil nur für die Biographieforschung von größerem Interesse (vgl. die Beiträge von Gülke und Schipperges zu Heinrich Besseler, oder zu Friedrich Blume die Aufsätze von Meischein und Finscher: wobei letzterer besonders hervorzuheben ist, weil er wohl definitiv den von verschiedenen Seiten erhobenen Vorwurf der direkten NS-Abhängigkeit des MGG - des großen musikwissenschaftlichen Lexikons "Musik in Geschichte und Gegenwart" - aus der Welt schafft). Das größte Interesse verdienen allerdings jene Beiträge, die wenigstens im Vorbeigehen Fragen allgemeiner Art nach den methodischen Voraussetzungen für die allerseits geforderte (und zu einem guten Teil ja auch bereits in Gang gekommene) Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Musikwissenschaft streifen (vgl. die Aufsätze von Finscher, Stenzl, Pape, Meischein, Gülke, John). Dass es in dieser Hinsicht noch einiges zu klären gibt, zeigt folgende Bemerkung von Friedhelm Brusniak: es solle "nicht einer graduellen Unterscheidung von mehr oder weniger Verstrickung in das faschistische Regime der Weg bereitet werden - ein solch denkbarer Vorwurf [?] wäre nicht nur methodisch abwegig, sondern im Hinblick auf das menschenverachtende und verbrecherische System der Nazis geradezu makaber". Dass die Alternative nur in einer kollektiven Pauschalverurteilung aller nur irgendwie "Beteiligten" (und wer kann in einem totalitären Regime wirklich lange völlig "unbeteiligt" bleiben?) besteht, scheint den Autor ebenso wenig zu stören wie die Tatsache, dass eine solche maximalistische Auffassung ja fast die gesamte bisher geleistete Arbeit seiner Fachkollegen zu "makabrer" Makulatur erklärt, denn natürlich zielen all die bisher (auch im vorliegenden Band) veröffentlichten Überlegungen zu Strauss, Pfitzner, Furtwängler, Karajan, Blume, Besseler und all den anderen Größen der Musik und der Musikwissenschaft auf nichts anderes als auf Differenzierungen der Verhaltensweisen und auf "graduelle Unterscheidungen von mehr oder weniger Verstrickung" ab.

Eine schlaglichtartige Beleuchtung der Konvergenz von NS-Ideologie und Musikauffassung jener Zeit kann anknüpfen an eine Bemerkung von Christoph Martin Schmidt in seinem Aufsatz zur "Ächtung und Ausgrenzung" des jüdischen Komponisten Mendelssohn-Bartholdy im 3. Reich (auch das übrigens ein schon öfters ausführlich behandeltes Thema). Schmidt will einen Widerspruch feststellen zwischen der sozialdarwinistischen Überzeugung des "Recht des Stärkeren" und dem in den Rassebestimmungen zu Tage tretenden "Angstsyndrom": denn wenn "Mischehen" deswegen für einen "gesunden Volkskörper" gefährlich sind, weil offenbar ein stärkerer Einfluss des "nicht-arischen" Teils vorausgesetzt und befürchtet wird, dann sei es wohl nicht weit her mit der behaupteten natürlichen Überlegenheit der "arischen Rasse". Diese Überlegung übersieht aber, dass die "Gefährlichkeit" der "jüdischen Rasse" nach der offiziellen NS-Doktrin daher rührt, dass diese die "wahre" und "aufrechte" Konfrontation gerade vermeidet und stattdessen parasitär und viral die stärkere Rasse unterwandert (die grausame Konsequenz dieser Wahrnehmung war bekanntlich, dass die Juden eines "fairen" "Volkstumskampfs" auf gleicher Augenhöhe nicht für würdig angesehen wurden, sondern wie "Schädlinge" "ausgerottet" werden mussten). Musikgeschichtlich konnte die zu Beginn des Jahrhunderts einsetzende "schleichende Unterwanderung" der deutschen "ernsten Musik" durch den Einfluss der (internationalen) U-Musik in diesem biomorphen Sinn interpretiert und pauschal "den Juden" zur Last gelegt werden; denn hier musste sich vor den Augen aller entrüsteten Traditionalisten ein gleichermaßen kaum fassbarer wie objektiv unaufhaltbarer Wandel (bis in die jahrtausendealten tonalen Fundamente hinein!) vollziehen, der eben für bestimmte beschränkte Denkhorizonte mit antisemitischen Begriffen wie "Zersetzung" und "Auflösung" noch am ehesten verstehbar war. Auf diese Weise gewann die simplifizierende Interpretation von unliebsamen musikhistorischen Großtendenzen eine gefährliche politische Dimension, die denunziatorische und damit tödliche Folgen haben konnte. Vor diesem weiter gespannten Hintergrund scheint es auch problematisch, wenn Friedrich Geiger dem Bartók-Forscher Edwin von der Nüll sein "traditionalistisches Denken" zum Vorwurf macht (und in die Nähe von organizistischen NS-Überzeugungen stellt), weil er das "evolutionäre Wesen der Neuen Musik" belegen wolle: denn vielleicht ist man erst, wenn man die Innovationen und Transformationen der Tonalität, auch entgegen dem revolutionären Selbstverständnis der "Neutöner", als quasi-logische objektive Weiterentwicklungen des Tonmaterials versteht, wirklich davor gefeit, die Neuerungen als "artfremde" externe Übergriffe auf ein in sich abgeschlossenes und als solches zu bewahrendes, nur mit sich selbst identisches System zu deuten.

Die Musikwissenschaft wird sich auch mit der von Burkhard Meischein gestellten Frage auseinandersetzen müssen, ob ihr nicht eine "Ideologieresistenz nach außen" zugesprochen werden könne, "die mit einer Ideologiedurchtränktheit nach innen einherging, was die Empfindlichkeiten gegenüber politischem Wechsel milderte" und die "innere Autonomie" des Fachs von einem Regimewandel unberührt ließ; diese interessante Sichtweise verspricht der Musikwissenschaft ungefähr denselben Schutz vor der totalitären Infektion, den ein Tbc-Kranker vor der Ansteckung durch Grippebazillen genießt. Die Diagnose des Patienten Musikwissenschaft, die Michael Walter im letzten Aufsatz des Bandes ausstellt, lautet da ganz anders, denn er leitet gerade aus der ideologischen Kontamination mit dem NS und der nicht auskurierten Heilung davon die Scheu vor der Auseinandersetzung "mit den musikwissenschaftlichen Inhalten der zwanziger bis vierziger Jahre" ab und beklagt den "daraus resultierenden Rückzug auf einen verengten Fachbegriff". Dies könnte andeuten, warum und mit welcher Absicht man heute Musikwissenschaftsgeschichte immerhin auch studieren könnte: nicht um einen siechen Fast-Kadaver in einzelne, stolz präsentierte Beutestücke zu zerfleddern, sondern um ihn wieder aufzupäppeln und seinen regenerationsfähigen und -würdigen Teilen zu neuem Leben zu verhelfen.

Titelbild

Isolde von Förster / Christoph Hust / Christoph-Hellmut Mahling (Hg.): Musikforschung. Faschismus. Nationalsozialismus. Referate der Tagung Schloss Engers (8. bis 11. März 2000).
Are Musik Verlag, Mainz 2001.
509 Seiten, 45,50 EUR.
ISBN-10: 3924522065

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