Erzählerischer Tanz auf dünnem Eis

Jostein Gaarders Roman "Der Geschichtenverkäufer"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein kleiner Junge lebt seine überbordende Fantasie aus. Er gibt vor, eine Leiche gefunden zu haben, um sich dann an den vorbeirasenden Polizeiautos zu erfreuen; er erzählt seiner Mutter skurrile Geschichten über ein verunglücktes Zirkuskind; er kritisiert die Kinderfunksendungen und reicht Verbesserungsvorschläge ein; er schaut sich als Zwölfjähriger mit seiner Mutter "Madame Butterfly" an und sieht bereits nach dem ersten Akt das Ende voraus; danach verbirgt er Tschaikowskys "Symphonie Pathetique" vor seiner Mutter "ebenso sorgfältig wie seine Pornohefte".

Mit seiner nie versiegenden Kreativität sichert sich der junge Petter Spinnenmann schon als Schüler ein beträchtliches Einkommen, in dem er seinen Mitschülern - zunächst für Süßigkeiten, später für bare Münze - Aufsätze schreibt und andere Schularbeiten erledigt. Er ist ein gerissener Stratege, weiß um die Fähigkeiten seiner Klassenkameraden und platziert dementsprechend auch Fehler in den Arbeiten.

Autor Jostein Gaarder, der 1993 mit seinem inzwischen in mehr als 40 Sprachen übersetzten Roman "Sofies Welt" den internationalen Durchbruch schaffte, hat in einem Interview anlässlich einer Lesung in Hamburg mögliche autobiografische Motive im vorliegenden Roman strikt ausgeschlossen.

Doch da müssen Zweifel erlaubt sein, denn der erwachsene Peter Spinnenmann ist nicht nur (dank seiner Fantasie) ein wohlhabender Mann geworden, er liefert auch allerlei kulturkritische Sottisen über das Buch- und Verlagswesen und über den Niedergang der Fernsehkultur, die in der Vergangenheit in ähnlicher Form von Gaarder selbst zu hören waren.

Den weiteren Lebensweg des Petter Spinnenmann gestaltet der 50-jährige norwegische Erfolgsautor ziemlich abenteuerlich. Aus dem intelligenten Wunderkind lässt er einen profitorientierten Geschichtenverkäufer werden, der sein Leben nicht gegen das eines Studienrates oder Schriftstellers tauschen möchte.

Der Protagonist wird Ideenlieferant für zahlreiche erfolgreiche Schriftsteller: Seine Exposés verkauft er meistbietend. Spinnenmann hält sich im Hintergrund und täuscht seinen Abnehmern vor, eine Art Exklusivzuarbeiter zu sein. Als der Schwindel auffliegt, fürchtet er um sein Leben. Wer schon als Kind Puccinis Dramaturgie zu antizipieren verstand und Tschaikowsky als "wirkliches Genie" erkannte, dem können als Erwachsenen - so wird es suggeriert - auch schon einmal Gedanken an das tragische Ende der "Madame Butterfly" durch den Kopf gehen.

Neben den kulturkritisch-essayistischen Passagen streut Gaarder also auch noch Thrillermotive in den Roman ein. Spinnenmann fühlt sich verfolgt ("Ich kann froh sein, daß ich mit heiler Haut von der Buchmesse entkommen bin") und glaubt 100 Menschen zu kennen, die ein Motiv hätten, ihn zu töten. Die humorvoll begonnene Persiflage auf die heutige Schriftstellerei verheddert sich nun in einem Pseudo-Spannungsgewirr.

Da geht dann selbst einem routinierten Autor wie Gaarder schon einmal die Linie verloren. Er lässt seine Hauptfigur ein knappes Dutzend Tonbandkassetten in einem Schließfach deponieren, die er vorher - daraus soll jemand schlau werden - mit römischen Ziffern von eins bis 38 gekennzeichnet hat.

Der Roman lässt sich nicht trefflicher beschreiben als durch ein Peter Spinnenmann-Statement zu Beginn der Handlung: "Das Phantasieren war wie ein Tanz auf dünnem Eis. Ich drehte ausgefeilte Pirouetten auf einer schwachen Eishaut." Das birgt große Gefahren. Ein schlittschuhlaufender Dichter ist einmal auf dem dünnen Eis des Berliner Wannsee eingebrochen und zu Tode gekommen. Aber das ist eine andere Geschichte, die nicht Jostein Gaarder, sondern die Realität geschrieben hat.

Titelbild

Jostein Gaarder: Der Geschichtenverkäufer. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446202102

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