Das Einmaleins des guten Tons

Max Goldts Tage- und Benimmbuch

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bisweilen üben sich die Medien im Skizzieren einer Scheinwelt, die dem Wunschdenken stärker verpflichtet ist als der gebotenen Realitätsbeschreibung. Der konzertierte moralische Aktionismus zum "11. September" machte dies einmal mehr deutlich. Ganz Deutschland sei erstarrt, hieß es damals, ergriffen von der klassischen Katastrophen-Trias Wut, Trauer und Betroffenheit. Das Leben stand jedoch nur dort still, wo sich die Live-Bilder aus Übersee betrachten ließen, etwa am Frankfurter Hauptbahnhof, unter dem großen TV-Schirm - welcher dann auch prompt, mitsamt seinen Betrachtern abgefilmt, als dokumentarisches Indiz für die Stillstandsthese diente. Diese Erfahrung machte auch der Schriftsteller Max Goldt: "Eine merkwürdige Stille liege über der Stadt", verkündete das Berliner Info-Radio am Tag, "als es passierte". "Da ich eh vorhatte, mir aufgrund der septemberuntypischen Kühle für die Frankenfahrt eine Übergangsjacke zu kaufen, beschloß ich, runterzugehen und mir die merkwürdige Stille genauer zu Gemüte zu führen. Autos donnerten umher, Menschen saßen in Cafés, quakten munter in ihre Telephone und erledigten ihre Einkäufe. Von Stille keine Spur, schon gar nicht von einer merkwürdigen." Die Übergangsjacke, die am Tag, der die Welt verändern sollte, plötzlich eine ganz neue symbolische Aufladung erfuhr, wird Goldt dann doch nicht kaufen. Statt dessen ersteht er eine Flasche Wein und erledigt, selbige konsumierend, "debilen Steuerkram" - ohne Info-Radio.

Die Eintragungen zu jenem "ereignisverzerrte[n] Tag" gehören zu den Glanzlichtern des neuen Buchs von Max Goldt, dem hintersinnig als "Tagebuch-Buch" klassifizierten Textsammelsurium "Wenn man einen weißen Anzug anhat". Mit der Versicherung, ein Tagebuch erlaube "formale Mogeleien sämtlicher Art", konnte Goldts neuer Verleger das ungewöhnliche Projekt an den Autor bringen. Solche formalen Mogeleien finden sich denn auch ganz unkaschiert in Form herkömmlicher Goldt-Kolumnen, die einfach mit einem Datum versehen Einzug in das Buch gefunden haben.

Die berüchtigte und von Goldt zur Perfektion gebrachte Kunst der wilden und oft überraschend zirkulären Assoziation wird in seinem Tagebuch kaum noch praktiziert. Das hängt wohl damit zusammen, dass die Texte, bis auf die eingeschmuggelten Kolumnen, oft recht kurz ausfallen. Nicht jeder Tag bietet so viel Ausbreitungskapital wie jener 11. 9. oder der 29. 9., an dem Eckard Henscheid seinen 60. Geburtstag begeht und Max Goldt als Gast die hohe Schule der Tischkonversation pflegt. Auch setzt der sprachsensible Autor seine legendäre, von Konjunktiven und Schachtelsätzen geprägte Diktion, der man schon Mann'sches Niveau zugebilligt hat, etwas dosierter ein. Schließlich fehlen die mittlerweile zum festen Repertoire eines Goldt-Buchs gehörenden Photos, die, architektonische, modische oder phänotypische Fundstücke zeigend, stets eine gelungene ikonographische Ergänzung zum gedruckten Wort formten. Weniger Goldt, möchte man da meinen. Aber weit gefehlt: Auch als Tagebuchschreiber brilliert der Autor wieder als schelmischer Alltagschronist und besonnener Sprachpfleger, dessen Neologismen - wie die jetzt schon oft zitierten "Kommentarwichsmaschinen" - sich im aktiven Wortschatz eines jeden Medienschaffenden wieder finden sollten.

Ungebrochen präsentiert sich nicht nur Goldts unvergleichliche Fab- und Formulierlust, sondern auch seine kritische Alltagsbeobachtungsgabe. Kritisch deshalb, weil er, entgegen der seinen Sound imitierenden Popliteraten nicht nur ironisch-unironisch auflistet, welche Sprechweisen, Dinge und Gepflogenheiten unsere Zeit auszumachen scheinen, sondern auch, wie diese Zivilisationserscheinungen zu bewerten sind. Medienrüge, Sprachpflege und Verhaltensregeln stehen Seite an Seite und fügen sich zu einem modernen, zwanglosen Einmaleins des guten Tons.

Nicht von ungefähr sitzt die "umstrittene Sozialpädagogin" Katharina Rutschky am 15. 10. 2001 in Goldts Küche, um sich bei ihm Rat und Anregung für ihr geplantes Benimmbuch zu holen. Diese Verhaltensfibeln erleben ja derzeit eine Renaissance. Ohne Kenntnis derartiger Schriften darf jedoch die These geäußert werden, dass es wohl keines dieser Bücher mit den aus pragmatischsten Überlegungen hervorgegangenen Handlungsanleitungen Max Goldts aufnehmen kann. Die von Gräfin Gloria von Thurn und Taxis und von Sibyl Gräfin Schönfeldt in ihren Schriften kontrovers beantwortete Frage, ob ein Weinglas an der Coppa oder, um die geschmacksmindernde Aufwärmung des Tropfens zu vermeiden, besser am Stil angepackt werden sollte, findet bei Goldt eine höchst sympathische Lösung: In seinen Kreisen "wird dem Wein gar keine Gelegenheit gegeben, sich unnötig mit Wärme aufzuladen."

Titelbild

Max Goldt: Wenn man einen weissen Anzug anhat. Ein Tagebuch-Buch.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
158 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3498024930

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