Beschützendes Mandala

Der Erzähltheoretiker Franz K. Stanzel zieht Bilanz

Von Florian GelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Gelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In kaum einem anderen Forschungsgebiet der Literaturwissenschaft werden einzelne Fachbegriffe so stark mit ihren ,Erfindern' identifiziert wie in der Erzähltheorie: Die Unterscheidung zwischen "Erzählzeit" und "erzählter Zeit" beispielsweise geht auf Günther Müller zurück, die Bezeichnung "unreliable narrator" auf Wayne C. Booth und Typologisierungen wie "extradiegetisch" und "intradiegetisch" auf Gérard Genette. Die Identifikation von Terminologie und Urheber ist im Falle des Nestors der deutschsprachigen Erzählforschung, des österreichischen Anglisten Franz Karl Stanzel (*1923), besonders ausgeprägt. Die meisten Literaturstudenten - wenn nicht schon Gymnasiasten - assoziieren mit diesem Namen die einprägsame Klassifikation der "typischen Erzählsituationen". Gemeint ist Stanzels Trias von "auktorialer", "personaler" und "Ich-Erzählsituation" und deren Anordnung auf dem ebenso berühmten wie umstrittenen "Typenkreis", der auf wundersame Weise die heterogensten erzählerischen Werke als ein organisch-harmonisches Ganzes darzustellen vermag. Einzelne Begriffe aus Stanzels Theoriekonzept werden längst auch außerhalb des akademischen Betriebs verwendet: In Buchrezensionen oder im Feuilleton spricht man heute ohne weitere Erklärungen von einem "allwissenden" oder "Ich-Erzähler".

Stanzel, der von 1962 bis 1993 an der Universität Graz lehrte, hat sich über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg mit der Ausarbeitung seiner Typologie beschäftigt und seine Ergebnisse in verschiedenen Büchern dokumentiert: angefangen mit der Grazer Habilitationsschrift "Die typischen Erzählsituationen im Roman" (1955), über die Kurzfassung der Typologie in dem Handbuch "Typische Formen des Romans" (1964), bis hin zu der umfassenden, auch neuere methodische Ansätze miteinbeziehenden "Theorie des Erzählens" (1979). Die Grundkonzeption der drei idealtypischen Vermittlungsformen des Erzählens hat Stanzel bei allen Modifikationen beibehalten. Seine Theorie ist also weder schwer zugänglich noch schwer erhältlich - im Gegenteil, die letzteren beiden Titel werden (in der zwölften bzw. siebten Auflage) nach wie vor im Buchhandel angeboten. Der vorliegende Band ergänzt nun die Buchveröffentlichungen durch eine Sammlung verstreut publizierter Einzelbeiträge Stanzels zur Erzähltheorie aus den Jahren 1959 bis 2001. Den siebzehn Aufsätzen (vier davon in englischer Sprache) ist eine über hundertseitige "bio-bibliographische Einleitung" vorangestellt, in der Stanzel Stationen seines akademischen Werdegangs sowie der Entwicklung seiner Erzähltheorie schlaglichtartig beleuchtet - die beiden Bereiche Vita und Erzählforschung lassen sich allerdings kaum auseinanderhalten. Es ist hier nicht der Ort, auf den Inhalt der Einzelbeiträge näher einzugehen. Neben grundlegenden Artikeln zu den "typischen Erzählsituationen" enthält der Band Aufsätze zu Einzelaspekten (etwa zu der zentralen Unterscheidung zwischen "Erzähler" und "Reflektor"), zum Phänomen der "erlebten Rede" sowie Rückblicke, Rechtfertigungen, Forschungsberichte, Richtigstellungen und Ausblicke innerhalb des klar abgegrenzten Gebiets der Erzähltheorie. Abgerundet wird der Band durch einen Gastbeitrag: Dorrit Cohns bekannten Aufsatz "The Encirclement of Narratives" (1981), in dem sie den Stanzelschen Typenkreis mit den komplexen Analysemodellen Gérard Genettes (aus dessen "Discours du récit", 1972) in Einklang zu bringen sucht.

Der vermittelnde Ansatz der amerikanischen Germanistin Cohn ist allerdings alles andere als repräsentativ für die Aufnahme der Typologie Stanzels in der internationalen Erzählforschung. In diesem mittlerweile zu einer hochdifferenzierten Spezialdisziplin angewachsenen Gebiet erscheint Stanzel mit seinem Typenkreis heute als kuriose - beinahe historische - Randerscheinung, die von theoretisch ambitionierteren Theorien längst überholt worden ist. Kaum eine neue Einführung zum Thema versäumt es, auf theoretische Unzulänglichkeiten und Unklarheiten im Stanzelschen System hinzuweisen. - Dies gilt aber für die Rezeption der deutschen Tradition der Erzählforschung (neben Stanzel v. a. die Arbeiten Eberhard Lämmerts und Käte Hamburgers) insgesamt. Deren ursprünglich morphologisch-phänomenologisch orientierter Ansatz gilt neben der französischen, analytisch-strukturalistischen Erzähltheorie (z. B. Tzvetan Todorovs oder Gérard Genettes) als weniger ausgereift und begrifflich unpräziser: Hie deutscher Idealismus und Goethesche Organismus-Vorstellungen, da französischer Esprit und analytische Schärfe. Hie gutmütig-werkimmanente Textinterpretation, da elegante Impromptus und ausgeklügelte Terminologie. Hie Kreis, da Tabelle.

Die verwirrende konzeptuelle und terminologische Konkurrenz verschiedenster Ansätze in der internationalen Erzählforschung wird durch zwei Umstände noch verstärkt: Zum einen sind die einzelnen Erzähltheorien notwendigerweise stark von dem jeweils zugrunde liegenden Textkorpus geprägt - was von vornherein zu großen Differenzen führt: Genettes Theorie wäre ohne sein Paradebeispiel Proust kaum denkbar; Stanzels Hauptinteresse wiederum gilt der neueren englischen Romanliteratur. Zum anderen findet die Erzählforschung, vielleicht mehr als andere Bereiche der Literaturtheorie, auch im schulischen Unterricht Beachtung und Anwendung. Das heißt, es besteht dringlicher Bedarf an einheitlicher Terminologie und Anwendbarkeit in der ,Praxis'. Ein Grund, weshalb Stanzels Typologie nicht nur die meistgescholtene, sondern auch die wohl meistangewandte Klassifikation darstellt, ist ihre einprägsame Anschaulichkeit: Während im Falle von Kafkas "Proceß" mit Genette von einem "extradiegetisch-homodiegetischen Erzähler mit interner-aktorialer Fokalisierung" gesprochen werden müsste, wäre der Roman nach Stanzel schlicht durch eine "personale (und nicht "Ich-" bzw. "auktoriale") Erzählsituation" charakterisiert.

In der ausführlichen Einleitung zum vorliegenden Band nimmt Stanzel mit sympathisch-bescheidener Offenheit zu all diesen Problemen ausführlich Stellung: den - vermeintlichen und tatsächlichen - Defiziten seines Ansatzes, den Schwierigkeiten und Hindernissen bei der Durchsetzung seiner Terminologie, den Differenzen zwischen den internationalen Forschungsansätzen. Der Erzähltheoretiker und sein System erscheinen in dieser Rückschau weitaus weniger dogmatisch und einseitig als in der manchmal ungerecht verzerrenden Rezeption. Im Gegenteil: Leicht wird vergessen, dass die Beschäftigung mit (englischsprachigen! modernen!) Romanen sowie der pragmatisch-angelsächsische Zugang Stanzels im Universitätsbetrieb der Nachkriegszeit geradezu als revolutionär erscheinen mussten. In den Aufsätzen wie in der Einleitung macht Stanzel immer wieder deutlich, dass es ihm - vor aller Theorie - stets darauf ankam, dem Leser ein praktikables Rüstzeug an die Hand zu geben, ein discovery tool für eigene Leseabenteuer. Eine Erzähltheorie für Leser, wie es der Titel anzeigt, ist beabsichtigt, und keine für lesefaule Spezialisten, deren metatheoretische Exzesse leicht zum Surrogat für die Beschäftigung mit der Primärliteratur geraten. Ein pragmatisches Instrumentarium für die Textinterpretation also, keine Hardcore-Narratologie für Schema-Experten. Dass seine Theorie immer wieder als theoretisch fehlerhaft und widersprüchlich geziehen wird, deren Anwendungsmöglichkeiten aber z. T. überschwänglich gelobt werden, verzeichnet Stanzel mit versöhnlichem Gleichmut. Selbstironisch spricht er von den "Kardinalsünden" der Erzähltheorie: "wissenschaftlicher Hybris", "terminologischer Eitelkeit" und "Kanonisierung der eigenen Paradigmenwahl". Wohlwollend, aber hartnäckig verteidigt er die eigenen Konzeptionen, allen voran natürlich den Typenkreis - der wie ein beschützendes Mandala im vorderen Buchdeckel auf deutsch, im hinteren in japanischer Sprache abgebildet ist.

Die biographischen Splitter - sie sind unterbrochen durch eingestreute Abbildungen mit kleinen Textmeditationen - nehmen auch und vor allem Bezug auf große und kleine Kontroversen und Querelen innerhalb der Narratologen-Zunft ("Die ,neutrale Erzählsituation': Ein Fall von Kindsweglegung?"). Hier kommt es teilweise zu etwas merkwürdigen, nun ja: Erzählsituationen, die wohl nur wenige Leser zu fesseln vermögen. So schreibt Stanzel über sich selbst: "Es wird vielleicht eines Tages nicht ganz uninteressant sein, die [...] Eigenart der Texte von [Wolfgang] Iser und Stanzel mit dem Wissen zu analysieren, daß Isers Texte am langen, Stanzels am kurzen Mikrokabel konzipiert und diktiert worden sind!". Interessant ist es hingegen, einmal die Geschichte der Entstehung und Verbreitung einer literaturwissenschaftlichen Typologie bzw. Theorie detailliert nachzuvollziehen. Denn während man eine Theorie in der Regel ,fertig' einem Handbuch entnimmt, wird hier deutlich, wie individuelle Forscherbiographie, Zufälle, bildungspolitische Entscheidungen, akademische Konkurrenzverhältnisse sowie methodische Zwänge und länderspezifische Umstände deren Entstehung beeinflussen. Dass gerade ein vermeintlich unverfängliches Gebiet wie die Erzählforschung zum Teil heftigste Auseinandersetzungen provozieren konnte, zeugt überdies von ihrer auch wissenschaftsgeschichtlichen Relevanz. Ein reichhaltiger Sammelband also, der allerdings mit seiner eigenwilligen Anlage, der thematisch engen Fokussierung und dem relativ hohen Preis kaum ein großes Publikum erreichen wird.

Kein Bild

Franz K. Stanzel: Unterwegs - Erzähltheorie für Leser.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002.
398 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-10: 3525208235

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch