Ein Wintermärchen?

Maxence Fermine über den Lebensweg eines japanischen Künstlers

Von Stefan FüllemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Füllemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte dieses Romans beginnt im Jahre 1884 im Norden Japans, wo die Winter am härtesten und längsten sind. Dort lebt die 17-jährige Hauptfigur Yuko Akita mit seinem Vater, einem japanischen Shinto-Priester. Yuko Akita hat zwei Leidenschaften: Die Poesie und den Schnee. Der Tradition seiner Familie folgend muss er Shinto-Priester oder Krieger werden. Nach Tagen inmitten des ewigen Schnees in den japanischen Bergen entschließt er sich gegen den Willen seines Vaters Dichter zu werden. In Form von Haikus will er die Schönheit des Schnees und der Farbe Weiß darstellen. Doch auch nach zahlreichen Haikus fehlt seinen Gedichten etwas, um ein vollkommener Künstler zu werden: Die Farbe. Deshalb macht er sich eines Tages - dem Ratschlag eines Abgesandten des Kaisers und einer unbekannten Schönen folgend - auf eine lange Reise in den Süden des Landes, um einen Meister der universellen Kunst zu treffen und bei ihm zu lernen. Es ist der Meister Soseki, der auch Meister der Farbe genannt wird, obwohl er bereits erblindet ist. Man sagt, seine Kunst wäre nie ohne die Liebe zu einer Frau entstanden.

Auf seiner langen Reise lernt Yuko die Farben des Regenbogens zu entdecken und sein Herz für die Liebe zu öffnen. So begegnet er einer bildschönen, im Eis eingeschlossenen Europäerin, in die er sich verliebt. Später erfährt er, dass es sich dabei um die bei ihrem letzten Auftritt als Seiltänzerin ums Leben gekommene Frau Sosekis handelt. Sie trug den Namen "Neige". Am Ende seiner Lehrzeit führt Yuko seinen Meister an das Eisgrab seiner Frau. Dort entschläft Soseki im reinsten Weiß der Welt, mit seinem Herz am Ziel seiner Wünsche, den Frieden gefunden habend.

Nach diesem Erlebnis kehrt Yuko zurück in den Norden, zurück zum Schnee. Auf direktem Weg, wie ein Seiltänzer. Er trauert, aber nicht um den verstorbenen Meister, sondern um die Liebe, die er im Schnee verloren hat. Viele Nächte träumt er von Neige, der Frau im Eis. Beim Verfassen von Gedichten vergisst er den Schmerz, sobald er aber die Feder niederlegt, erstarrt sein Herz zu Eis. Nach einiger Zeit ändert sich sein Schreiben. Jedes Gedicht enthält nun das Farbenspiel des Regenbogens, doch in seinem Herzen herrscht unverändert kaltes Weiß.

Ein Jahr nach dem Tod des Meisters erhält Yuko Besuch von einer jungen Frau, eben dieser schönen Unbekannten, die ihn vor seiner Reise in den Süden besuchte. Ihr Name ist Schneeflocke im Frühling. Es ist die Tochter Sosekis. Der Zeitpunkt, in dem ein Traum für Yuko wahr wird, ist gekommen.

Maxence Fermine gelingt es in diesem, mit Skizzen illustrierten, Roman eine berührende Geschichte zu verfassen. In sehr kurz gehaltenen Kapiteln, die auch die Vergänglichkeit der Zeit dokumentieren, erzählt er von der Kraft und der Schönheit des Schnees und der Farbe Weiß, aber auch der Notwendigkeit nach Farbe im Leben, also nach Liebe. Yuko und Schneeflocke im Frühling haben diese Farbe gefunden "und sie liebten einander. In der schwindelnden Höhe eines Seils aus Schnee".

"Schnee" ist ein Buch das zum Nachdenken und Verweilen anregt, ja sogar verpflichtet. Denn durch sparsam und zart angedeutete Federstriche, welche an unfertige Haikus erinnern, entführt Maxence Fermin den Leser in eine Welt der Märchen und der Poesie. Es bleibt Platz für Interpretationen und Träume, aber auch für Sehnsüchte und Wünsche. Vielleicht hält man für einen Augenblick inne und nimmt sich die Zeit, sich selbst leben zu sehen.

Titelbild

Maxence Fermine: Schnee. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Monika Schlitzer.
Goldmann Verlag, München 2001.
120 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3442309336

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