Wem die Glocke klingt

Felicitas Hoppe führt ihre Leser nach Portugal, nach Indien und in die Irre

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer es noch nicht weiß, dem muss es gesagt werden: Die Jagd auf Windmühlenflügel, wie sie weiland Don Quijote praktizierte, ist out. Was ein echter Ritter ist, der reist. Nach Kalkutta oder nach Wilwerwiltz. Das macht keinen Sinn? Das muss es auch nicht. Wenn Felicitas Hoppe einen Ritter auf eine Reise schickt, dann ist der Sinn die Suche nach dem Sinn, und eine solche Suche höret nimmer auf.

Ein Ritter und ein Pauschalist landen in Indien, der Ritter macht Lagerfeuer und schnitzt Lanzen, der Pauschalist meckert und spricht in sein Diktiergerät. Zwischendurch rettet der Ritter einen Zoowärter vor einem Tiger. Was mit dem Wärter passiert, ist symptomatisch für das, was der Text mit dem Leser macht: "Schlaflos saßen sie da und konnten sich nicht trennen, der Ritter von seinem Feuer nicht, der Hund von seinem Ritter nicht, und der Pauschalist hatte sich so in sein grimmiges Nachdenken über den Wärter vertieft, dass keinem von ihnen aufgefallen war, dass der Mann selbst längst im Begriff war, sich vor ihren Augen in Luft aufzulösen." In E. T. A. Hoffmanns "Der goldne Topf" verwandeln sich, das glaubt Anselmus zu sehen, die Rockschöße des Archivarius Lindhorst in Geierflügel und der Mann fliegt davon. Bei Hoppe springt der Wärter, nachdem er sich mit dem Pauschalisten noch ein aberwitziges Rennen geliefert hat und "am Ende nicht mehr auszumachen war, wer wem auf den Fersen war, der Pauschalist dem Wärter oder dieser dem Pauschalisten", in einen Korb und ist verschwunden.

Das ist eine der zahlreichen Episoden, die in die drei Kapitel "I. Übersee / II. Wilwerwiltz / III. Paradiese" eingebettet sind. Die Reise von Europa nach Indien wird als Reise von Indien nach Europa beschrieben, dies gehört zu den zahlreichen Paradoxien der Handlung. So wie die erfolglose Suche nach Dr. Stoliczka, die eigentlich eine Suche nach sich selbst ist. Der Pauschalist, der mit einem Foto von zwei Männern ausgerüstet ist und wissen will, welcher von beiden der Doktor ist, der also nach Eindeutigkeit sucht, muss wie der Leser des Texts lernen, dass es diese Eindeutigkeit nicht gibt. Womöglich handelt es sich um ironische Leseranreden, bei Hoffmann keine Seltenheit, wenn der das mittlere Kapitel erzählende "Kleine Baedeker" das Folgende über seine Führungen berichtet: "Aber lassen wir das, denn wenn ich sie jetzt so schleppend durch die Säle schleichen sehe, meine Besucher, begreife ich auf einmal schlagartig, dass sie vollkommen talentlos sind, ohne jede Begabung, und dass keiner von ihnen jemals in der Lage sein wird, den Klang der versunkenen Arsdorfer Glocke zu vernehmen." Vielleicht ist der Leser dumm, der den Klang der tieferen Textschichten nicht vernimmt; vielleicht ist aber auch der Leser dumm, der einen Klang vernimmt, den es gar nicht gibt? Ist nicht gerade der ironisch gezeichnete Pauschalist eine Erzählerfigur, indem er sich nicht von seinem Diktiergerät trennen und ständig auf Band sprechen will, nach dem Motto: Ich notiere es, also ist es?

Ein wenig Halt in der heillosen Geschichte von einem Ritter, einem Pauschalisten und einem Fremdenführer, von drei Geschwistern also, deren Reiseroute auf der angehängten Karte wie ein Fragezeichen aussieht, geben eine Handvoll Symbole, voran die Dreizahl (Kapitel, Geschwister, Heilige drei Könige ...), einige dünne rote Fäden, etwa die Suche nach dem unaussprechlichen, wie einst Vladimir Nabokov Schmetterlinge jagenden Doktor (als vergleichbar stilisierte Figur irrt Nabokov schon durch Texte von W. G. Sebald), und refrainartig wiederholte Sätze, vor allem: "Woher kommen wir, wo sind wir, wohin gehen wir?"

Macht das Sinn? Andererseits ist wirklich zu fragen, ob denn das, was wir üblicherweise mit dem Begriff "Geschichte" bezeichnen, ob als Historie oder als Erzählung, wirklich so viel mehr Sinn macht, ob nicht, aus der Perspektive eines Hoppe-Textes (wie bereits in "Picknick der Friseure" von 1996 und "Pigafetta" von 1999), die Zuschreibung von Sinn in der Geschichte und in den Geschichten nicht genauso abenteuerlich ist - und noch dazu langweilig. Wie sagt doch der Kleine Baedeker: "Aber anders ist dieses Geschäft ja überhaupt nicht zu betreiben, denn was kann ich dafür, dass die Geschichte so beschaffen ist, dass sie aus nichts als lauter Geschichten besteht, aus einer endlosen Fülle verwechselbarer Gebeine und Namen."

Felicitas Hoppes Stil ist ins Heitere gewendeter Kafka. Wer weiß, vielleicht wäre Kafka nicht gestorben, wenn er Hoppe hätte lesen können, vielleicht wäre er ein Ritter geworden, oder ein Fremdenführer, aber nicht der Pauschalist, der er vielleicht war. Vielleicht hätte er gelernt, dass Abgründe nicht immer tödlich sein müssen. Kafka und Hoppe eint das Wissen: Hinter jedem Wort lauert ein Abgrund. Beide springen hinein, Kafka wie Hoppe, doch Kafka mit einem Schrei aus Entsetzen und Lust, Hoppe dagegen mit einem Lächeln.

Titelbild

Felicitas Hoppe: Paradiese, Übersee. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
189 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3498029673

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