Die Ästhetikmaschine

Jürgen Teller kratzt an den Mythen unserer Schönheitsideale und inthronisiert sich selbst

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der parallel zu einer Ausstellungsreihe publizierte Fotoband "Märchenstüberl" von Jürgen Teller wartet gleich auf den ersten Seiten mit einigen unverblümten Perspektiven zum Künstler in persona auf. Kannte man Tellers Namen bislang hauptsächlich aus den Bildnachweisen großer Modemagazine oder sonstiger Lifestyle-Gazetten mit dem Interesse an Extraoriginalität und dort in der überwältigenden Mehrheit mit Objekten der allgemeinen Begierde, so setzt sich Teller hier auf alles andere als obskure Art in Szene. Im Gegenteil rückt er sich, seinen mängelgespickten Körper und seine Vergangenheit ins Licht und scheut damit auch nicht das Unvorteilhafte. Sofern man diese Form der Authentizität nicht als aufdringlich wahrnimmt und über Bauch und unförmigem Körper nicht lieber eine verhüllende Jean Claude & Christo-Versiegelung hängen möchte, kann man durchaus Vergnügen an diesen charmanten Aufnahmen entwickeln. Denn es birgt auch etwas angenehm Sich-Behauptendes, Selbstbewusstes in sich, wenn der nackte Jürgen Teller im Keller in Bubenreuth für die Kamera posiert, den Kopf hinter dem Lampenschirm versteckend, seiner Herkunft bewusst.

Dass dieser affirmative Sinn für das Selbst, das keinen gesellschaftlichen Idealvorstellungen entspricht, hier auftaucht, obwohl Teller ansonsten in der mondänen Welt der Eleganz und des Glamours parliert, kann man als besondere Würze dieses Buches begreifen. Wie Peter Turrini plakativ und aufrührerisch schrieb: "Warum ersetzen wir die unmenschlichen und verlogenen Schönheitsideale der Werbung und Illustrierten nicht durch unsere eigene proletarische, bürgerliche, kleinbürgerliche Realität? Wäre es nicht viel menschlicher und logischer, unsere Unvollkommenheit, unsere Falten und Tränensäcke, unseren Haarausfall und unsere Gänsehäufelfiguren, unsere Fehler und Fehlerchen, unsere ganze Verschandelung zum herrschenden Schönheitsideal zu erheben? Warum gelten wir nicht als schön, da wir doch die Mehrheit sind? In einer Demokratie regiert doch die Mehrheit, oder?" Ganz ähnlich setzt "Märchenstüberl" diesen Ästhetikansatz um. Diese um Teller und seine familiäre, kindliche Umgebung kreisenden Bilder erzählen nichts von Scham oder Distanz zu sich und seiner Sozialisation, wie es die Präsenz der anderen Tellerschen Welt, die mit Kellern und Bubenreuther Märchenstüberln wenig gemein hat, vielleicht zu vermuten Anlass gegeben hätte.

Jedoch destabilisiert Teller auch diese Sphäre, in der man die makellose Schönheit regieren glaubte und lässt ein menschlich balanciertes Bild von so bekannten Models wie Kristen McMenamy, Stephanie Seymour oder Kate Moss entstehen. Provokant und fordernd, so tritt McMenamy nackt, nur mit einer Zigarette, zwei Halsketten und einem kecken, aufgemalten Versace-Herz geschmückt in Szene und man ahnt, dass so die schöne Querulantin aussehen könnte. Denn ihr unverfälschter Körper trägt die Signaturen eines Kampfes. Auch wenn es nur der Kampf mit der Hauskatze oder mit den Unbilden des Berufes war, so sind blaue Flecken, Kratzer und Striemen unverkennbar und gewollt gebannt. Einen ähnlich ramponierten Eindruck macht ihr Körper, als er nackt kniend vor einem Heizlüfter sogar Torso präsentiert wird.

Hier wird nicht die Entmystifizierung bestimmter Persönlichkeiten betrieben, sondern eine grundlegende Aufklärung über den Moment des Unerwarteten angestrengt. Durch die Versetzung eines ehedem glitzernden Topmodels in den Zustand körperlicher Prekärität, der von Kälte zeugt und erzeugt wird, bricht ein subversives Moment in das Bild ein. Diese Enthüllung der sonst ein Dasein im Schattenreich fristenden Wirklichkeitsfetzen erreicht Teller ebenso brillant in seinem Bild des in Todesstarre befindlichen Hundes im Mülleimer.

Alles andere als ungestellte Realität findet man in den großformatigen Porträts einiger, wahrscheinlich zufällig selektierter Schönheitsköniginnen anlässlich der Miss-World-Wahlen. Diese lassen in ihrer zur Maske erstarrten Freundlichkeitsmimik so vollständig Natürlichkeit vermissen, dass man es mit servilen Funbotern zu tun zu haben scheint. Ihnen ist beinahe der Status von Artefakten zuzusprechen, und gerade dieses Treffen der zwei sich diametral entgegenstehenden Erzählungen aus dem Reich der Modewelt ist reizvoll und durchaus nicht wertneutral. Die reine Wiedergabe des Rollenverhaltens dieser Akteure im Zeichen des Beautybusiness reicht als Kritik an der Auslöschung ihrer Individualität bereits aus. Wie Teller es in fast all seinen Bildern illustriert, ist sein Interesse fokussiert auf Annäherungen an die Wirklichkeit. Auch deshalb erreicht man mit dem Auge Tellers Stellen der Realität und Spuren von Personen, die sonst nicht greifbar sind oder durch Blendungseffekte verwischt werden. Diese Blendung ist bei der feinen Schnellschussästhetik, die häufiger durchscheint, nicht präsent. Die nun abgenommene Absenz des großen Scheins macht die zum Teil recht profan und banal wirkenden Werke umso kostbarer und auch schöner.

Nun mag man fragen, was denn dann Jürgen Teller unterscheidet von jenen Paparrazi, die auch einen jener raren, wertvollen privaten Augenblicke im Leben eines durch und durch inszenierten Kunstproduktes erhaschen wollen. Doch es bedarf nicht einmal einer langen Betrachtung seiner Bilder, um jene emphatische Neugierde, die die niemals brutal entstellende Linse und ihren Bediener begleitet, einzufangen. Stets ist er zwar interessiert an Hinterbühnen und Szenen jenseits der bekannten Kulissenwelt, doch ist es eine Verbundenheit des Forschers zu seinem Objekt, die Nähe zum Inneren der Hülle. Man könnte ihn als Soulminer begreifen, nur dass er keinen Raubbau betreibt und keine Aggressivität bemerken lässt. Für diesen bemerkenswerten Fotografen verließen viele ihren Kokon. Die Nähe zu Kracauers Idee von Fotografie, nämlich der Prozessierung von ungestellter Realität und der Akzentuierung des Zufälligen, die Ulf Poschardt in einem von vier begleitenden Essays anklingen lässt, ist gewiss eine treffende Annäherung an den Künstler und Menschen Jürgen Teller. Im Ganzen betrachtet eine angenehme, vorsichtige Erosion der Subjekt-Objekt Hierarchie.

Titelbild

Jürgen Teller: Märchenstüberl.
Steidl Verlag, Göttingen 2002.
144 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3882438533

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch