Kritik als Berufung

Ein Portrait Marcel Reich-Ranickis in vielen Stimmen

Von Jan KüvelerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Küveler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Längst vergangen sind die Zeiten, in denen sich Literaturkritik forsch als "Kunstrichtertum" gerierte. Lessing, der gemeinhin als ihr Begründer gilt, schöpfte vor über 200 Jahren aus einem heute schier gigantisch anmutenden Selbstbewusstsein: "Der wahre Kunstrichter", so Lessing in der "Hamburger Dramaturgie", "folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert."

Heute schütteln wir da nur noch schwach den Kopf, verspüren beim bloßen Klang von Wörtern wie Richter-, geschweige denn Kunstrichtertum einen schalen Geschmack auf der Zunge und fragen uns, was denn um Himmels willen die "Natur" irgendeiner Sache sei. Ob Bibel, naturwissenschaftlicher Positivismus oder normative Regelpoetik - sie alle haben als Maßstab des Wahren, Schönen, Guten ausgedient. Wer heutzutage mit stoischem Blick und ebensolcher Gewissheit noch Kategorien wie "gut" und "schlecht" beziehungsweise "böse" bemüht, dem, so lautet der allgemeine Beschluss, ist nicht über den Weg zu trauen. Die gewaltigen Proteste, die eine derartige Rigorosität des Urteils etwa auf politischer Ebene auslöst, finden ihr Echo auch auf ästhetischer. Freilich fällt dieses leiser aus, werden Menschen hier doch höchstens rhetorisch hingerichtet.

Aber auch der verrissene Dichter, der längst Schriftsteller heißt, nippt hinter seinem Lesepult so verletzt am Sprudel, als habe man ihn eben waidwund geschossen. Auch ein Sturm im Wasserglas ist ein Sturm, wenn man ihn hautnah erlebt. So haben in den letzten Jahrzehnten die Wogen höher geschlagen im Wasserglas mit Namen Literaturbetrieb, seit in den 60er Jahren eine Kritikerpersönlichkeit den Platz hinter dem Lesepult der Gruppe 47 zum gefürchteten "elektrischen Stuhl" machte.

Eine Aura des Unbedingten umgibt jede schriftliche, noch mehr jede mündliche Äußerung Marcel Reich-Ranickis; die Wirkmächtigkeit seiner programmatischen Neigung zur vereinfachenden Darstellung und zur Polemik hat ihn über die Jahrzehnte zum "Papst der Literaturkritik" werden lassen - eine Bezeichnung, die ihn in verdächtige Nähe rückt zu jenen Verfechtern der reinen Lehre, die im Zeitalter des skeptischen Relativierens so anachronistisch erscheinen. Die Bemühungen, Reich-Ranickis Charakter und seine Arbeit, sein Leben und sein Werk darzustellen, mal begeistert, meist verächtlich und erbittert, haben eine lange Tradition. Schließlich setzte in diesem Textfluss vor wenigen Jahren der Dargestellte selbst mit der Autobiographie "Mein Leben" ein Ausrufezeichen. Wenn jüngst ein weiteres Buch mit dem Titel "Kritik als Beruf" den Versuch unternimmt, Reich-Ranickis Portrait zu zeichnen, muss es sich also die Frage nach seiner Besonderheit gefallen lassen.

Die Antwort, die es gibt, ist so simpel wie überzeugend: Bewusst fragmentarisch, wie eine Art Kaleidoskop, versammelt es unterschiedlichste Positionen von Autoren wie Kritikerkollegen deutscher Sprache, deren Literatur schließlich Reich-Ranickis Metier ist, lässt ihn im Gespräch mit Joachim Kaiser, Eva Demski und Wilfried F. Schoeller selbst zu Wort kommen und schließt mit einer umfangreichen und gedankenvollen Würdigung durch Mario Vargas Llosa. Das angeblich selbsternannte "Urmeter" der Kritik, wie Gerhart Roth in seinem Beitrag eher abfällig schreibt, wird gemessen an einer Vielfalt erklärtermaßen subjektiver Stimmen.

Ob man ihm nun "Bösartigkeit" und "Inkompetenz" vorwirft, wie Roth im erwähnten Essay, "Witz" und "Charme" attestiert, wie einige Seiten darauf Barbara König, oder die "Streitbarkeit" des Kritikers als dessen unverzichtbares Gut herausstellt wie Uwe Wittstock - ob Schmähung oder Huldigung, das Portrait wird mit jedem essayistischen Pinselstrich konturierter. "Ein Kerl muss eine Meinung haben", zitiert Reich-Ranicki Alfred Döblin gern. Dass er selbst in Fragen der Literatur über eine solche verfügt, steht wohl außer Zweifel - vom ewigen Vorwurf etwa der "Realismuslatte", die er an gleich welchen Roman anlege, soll hier gar nicht geredet werden. Erstaunlicher ist doch, dass die Art seines Auftretens, seine Liebe zur Polarisierung selbst polarisiert, dass seine Entscheidung zum Vertreten einer Meinung, zum Einnehmen eines klaren, wenn auch vereinfachten Standpunkts (gegensätzliche) Meinungen provoziert. Reich-Ranicki will weder Urmeter sein, noch Literaturpapst, am wenigsten Kunstrichter. Dass derartige Zuschreibungen seiner Eitelkeit schmeicheln, steht auf einem anderen Blatt. Marcel Reich-Ranicki widerspräche zu Recht jedem Vorwurf, er meine die allgemeinen Dogmen literarischer Qualität zu verkünden. Was er tatsächlich verkündet - und davon kündet dieses kleine Buch mit jeder Zeile -, sind seine ureigenen, mühselig errungenen und verteidigten Überzeugungen, ist seine eigene Meinung. Mit einem verbohrten Ideologen hat er wenig gemein; mit einem leidenschaftlichen Streiter für die Sache der Literatur dagegen alles. Gert Ueding bringt dies in seinem Beitrag auf den Punkt: "Wenn das Wort von der literarischen Existenz, vom Leben in der Literatur und aus ihr, einer Beglaubigung bedarf, dann liefert sie Reich-Ranicki mit jedem seiner Auftritte. Dass sie auch inszeniert sind, bis in die Körpersprache hinein, beeinträchtigt ihre Überzeugungskraft nicht, weil kein Ausruf, keine Geste, kein Verzweiflungs- oder Zornausbruch aufgesetzt, sondern der artistische Ausdruck existenzieller Beteiligung ist."

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Kritik als Beruf.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
200 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3596155770

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