Chronik eines Ausnahmezustands

"Eine Frau in Berlin" berichtet vom Leiden und Überleben im Moment der Befreiung durch die Soldaten der Roten Armee

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Verlauf des Zweiten Weltkriegs ist in letzter Zeit zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Angeregt durch die bereits seit längerem andauernde Debatte um die Einordnung des 'Luftkriegs' über Deutschland, sowie Grass' Novelle "Im Krebsgang" über den Untergang der "Wilhelm Gustloff", der den 'sinnlosen' Tod tausender Flüchtlinge forderte, ist das Interesse und die Aufnahmebereitschaft für diese lang verdrängte Leidenserfahrung wieder erweckt. Doch schleichen sich insbesondere in die nachbetrachtenden Schilderungen des Leids immer wieder auch falsche Töne einer unangemessenen Relativierung von Schuld und Ursachen des Geschehens ein, werden Leidensgeschichten einseitig anklagend zur Funktionalisierung in revanchistischem Interesse missbraucht. Umso bedeutsamer ist es, authentische Texte zum Geschehen zur Verfügung zu haben. In ihnen berührt das unmittelbare Erleben. Die Nähe zum Geschehen schafft einen eigenen Verstehenszusammenhang, der unabhängig ist von den erklärenden Motiven der Nachbetrachtung. So wird auch verständlich, wie die individuellen Schicksale zu einer kollektiven Erfahrung wurden, die als Traumata und Scham zu Schweigen und Verdrängen führten.

Die vorliegenden Tagebuchaufzeichnungen beginnen am 20. April 1945 und enden am 22. Juni 1945. Längst ist auch in Berlin der Krieg entschieden, doch die 'Reichshauptstadt' ist noch nicht eingenommen. In den Kellern ducken sich verängstigte Menschen immer noch vor den Bomben der Amerikaner. Die aus den östlichen Randbezirken der Stadt ins Zentrum vordrängenden russischen Soldaten stoßen auf sinnlosen und verlustreichen Widerstand von Volkssturmeinheiten, die Teil des grotesk-schauerlichen Untergangsszenarios sein sollen, das die im Bunker der Reichskanzlei ausharrende NS-Führungselite vorgesehen hat. In dieser Situation kommt es zu einem dramatischen Geschehen: den Vergewaltigungen von unzähligen Frauen und Mädchen durch die russischen Soldaten der vorrückenden Roten Armee.

Hiervon berichten die Aufzeichnungen. Zur Veröffentlichung waren sie zunächst nicht vorgesehen. Erst als ihr herausragender dokumentarischer Wert erkannt wurde, erschien 1954 eine amerikanische Ausgabe, zu welcher Kurt W. Marek - besser bekannt als der Schriftsteller C. W. Ceram - ein Nachwort verfasste, das auch den vorliegenden Band ergänzt. 1959 erschien eine deutsche Ausgabe der Aufzeichnungen in einem schweizer Verlag.

Die Verfasserin blieb anonym. Marek stellt sie im Nachwort als eine langjährige Bekannte aus Berliner Bürgerkreisen vor. Die zum Zeitpunkt des Geschehens etwa dreissigjährige Frau, Mitarbeiterin eines Verlags in Berlin, war ausgebombt worden und hatte in einem Haus im Osten Berlins Unterkunft gefunden. Im Keller erwarteten dort die verängstigten Menschen die ersten russischen Soldaten. Die kamen als Vergewaltiger einzeln, in Gruppen, hintereinander, unabweisbar. "Der mich treibt, ist ein älterer Mensch mit grauen Bartstoppeln, er riecht nach Schnaps und Pferden". Die Demütigung ist rücksichtslos: "Erstarrung, nicht Ekel, bloß Kälte. Das Rückgrat gefriert, eisige Schwindel kreisen um den Hinterkopf". In immer wieder erschütternder Klarheit schildert die Verfasserin, was sie und so viele Frauen während der Tage der Eroberung durch die russischen Soldaten erleiden mussten. Umso erstaunlicher mutet die Kraft und Konsequenz an, mit der die Verfasserin diese Geschehnisse aufschreibt. Doch es ist gerade auch diese Disziplin, die sie die Schrecknisse überstehen lässt. Die Niederschrift schafft Entlastung. In einer Art Erstaunen über die eigene Leidensfähigkeit wächst das Bewusstsein, sich in einer extremen Situation zu befinden, in der für einen kurzen historischen Moment die gewohnten Normen menschlichen Zusammenlebens außer Kraft gesetzt sind: "Was heißt Schändung? Als ich das Wort zum ersten Mal laut aussprach [...] lief es mir eisig den Rücken herunter. Jetzt kann ich es schon denken, schon hinschreiben mit kalter Hand... Es klingt wie das Letzte und Äußerste, ist es aber nicht." Die Tagebuchverfasserin ist zur Chronistin eines Ausnahmeszustands geworden. Sie klagt nicht an, sie berichtet ohne Hass. "Wieder Aug in Auge" mit einem der Männer, "die fremden Lippen tun sich auf, gelbe Zähne, ein Vorderzahn halb abgebrochen [...] Der lächelt."

Immerhin, man hat überlebt: "Ein Russki auf'm Bauch ist besser als ein Ami auf'm Kopp" (gemeint sind die amerikanischen Bomben). Mit sarkastisch-makabrem Witz fassen die Frauen zusammen, was ihnen geschah. Das Erlebte schweißt sie solidarisch zusammen. Moralische Bedenken gehören einer anderen Zeit an. "Essen anschlafen" ist in diesem Sinne eine kluge Überlebensstrategie.

Doch es deutet sich an, dass diese Erfahrung bald schon nicht mehr mitteilbar sein wird. Im letzten Eintrag schildert die Verfasserin das unerwartete Wiedersehen mit ihrem Freund Gerd. Die Lage hat sich beruhigt, eine gewisse Ordnung ist hergestellt. Im Gespräch witzeln die Frauen in ihrem makabrem Jargon miteinander. Schockiert reagiert der Freund: ",Ihr seid schamlos wie die Hündinnen geworden, ihr alle miteinander hier im Haus. Merkt ihr das denn nicht?' Er verzog angewidert das Gesicht: ,Es ist entsetzlich, mit euch umzugehen. Alle Maßstäbe sind euch abhanden gekommen'. Was sollte ich antworten?" Die traurige Sprachlosigkeit zwischen der geschundenen Frau und dem zurückgekehrten Mann wird zum Kennzeichen eines Neuanfangs, in dem das Erzählen verstummt und das Erlebte verdrängt wird.

Diese Tagebuchaufzeichnungen sind ein außergewöhnliches Dokument. In ihrer Wahrhaftigkeit sind sie unverzichtbar zur Rekonstruktion einer bestimmten historischen Situation. Zugleich sind sie aber mehr: ein 'document humain', das ebenso die Leidensfähigkeit des Menschen, wie auch seine Überlebensfähigkeit beschreibt.

Titelbild

Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
300 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 3821845341

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