Dem Wladi sei ein Trulala

Kaminer gibt erneut Geschichten über den russischen Kulturkreis zum Besten

Von Malte HorrerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Horrer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Truman Show, glaubt man Wladimir Kaminer, gab es wirklich.

Die Stadt, in der alle Gebäude nur Kulisse, alle Menschen Komparsen und alle anderen Dinge Staffage sind für den kleinen, einfachen Truman Burbank, der nicht weiß, dass sein ganzes Leben ein einziger großer Fernseh-Klamauk ist, war eigentlich nur ein mäßig erfolgreicher Kinofilm aus dem Jahr 1998. Tatsächlich aber gab es sie schon ein Vierteljahrhundert früher in der russischen Steppe. Dort hatte der sowjetische Staat für seine kleinen und einfachen Leute ein zweites Paris errichtet, das sich im regnerischen Herbst schnell zu London umbauen ließ. So durften die vom Staate gewürdigten Helden der Arbeit einen beinahe kostenlosen Kurzurlaub nach Paris bzw. London antreten, und sie wähnten sich ob all der ausländischen Fernseher, Kühlschränke, Autos und nicht zuletzt wegen des Eiffelturms (bzw. wegen Big Ben) auch wirklich dort. Leider flog der ganze Schwindel schon nach wenigen Jahren auf und Paris/London wurde über Nacht wieder dem Erdboden gleich gemacht, so dass wir es heute - im Gegensatz zu Kaminers Onkel Boris Anfang der 70er - nicht mehr besichtigen können.

Das "verfehlte Paris" ist die erste der insgesamt fünf Stationen auf Kaminers "Reise nach Trulala", auf der er uns außerdem an den Abenteuern seiner selbst sowie seiner Freunde und Verwandten in Amerika, auf der Halbinsel Krim, in Dänemark und in Sibirien teilhaben lässt. Kaminer verfällt von einer Geschichte in die nächste, von seiner Wohnung im Berliner Ausländerwohnheim zu den sogenannten russischen "Papstkindern", von der touristischen Nutzung des Absturzes des Künstlers Joseph Beuys auf der Krim zur Russlandradtour eines grünen Bundestagsabgeordneten, ja gar zur Verhaftung zweier Freunde in Paris wegen nackter Brunnenplünderung. Die Überleitungen sind meist unmerklich und sehr geschickt gemacht, jedoch entbehren die Geschichten jedweder chronologischen Reihenfolge.

So wird, wer hier einen zwar amüsanten, doch stringenten Reisebericht erwartet, enttäuscht: Das neueste Buch des Autors ist wie seine Vorgänger eine Sammlung von Kurzgeschichten, in denen er selbst als Ich-Erzähler auftritt und aus seinem privaten Nähkästchen plaudert - haarsträubende Geschichten, an deren Wahrheitsgehalt der Leser des öfteren zweifeln möchte, und die sich entweder in Russland abspielen oder von Russen im Ausland erlebt werden.

Dies ist wohl auch das Erfolgsgeheimnis von Wladimir Kaminer, der vor zwölf Jahren als Mittzwanziger von Moskau nach Berlin kam und dort nun als freischaffender Schriftsteller, Journalist und Radiomoderator arbeitet; seine Erzählungen kreisen stets um den ehemals sozialistischen Teil der Welt und seine Menschen, um einen Kulturraum, der einem Großteil der Deutschen bis heute recht unbekannt ist und für sie bis vor zwölf Jahren nahezu unerreichbar war. Diese Welt steckt für den Leser aus dem Westen voller Wunder, Verrücktheiten und Geheimnisse, so wie für Kaminer und Kumpanen die westliche Welt, in der (sein Freund Korchagin kann's kaum glauben) in Konserven durchaus nichts als Pariser Luft verkauft wird. Kaminer trifft ins Herz der derzeitigen Nostalgiewelle, die Erfolgsformate wie die 70er- und 80er-Shows hochgespült hat. Retro ist in. Wir erinnern uns gerade gerne an die alten Zeiten und wir erfahren auch gerne etwas über das, was wir selbst nicht miterlebt haben. Zwölf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung kommen die Deutschen langsam in der schon damals juristisch geschaffenen Realität an, lassen die Trennung hinter sich und sagen "Good-bye, Lenin" (auch so ein erfolgreiches Nostalgieformat).

Wie war das noch damals zu Zeiten von DDR und BRD-alt? Sein Geschichtsbuch lehrt den kleinen Pennäler Wladi: "Die sowjetische Armee hatte es 1944-45 nicht geschafft, ganz Europa zu befreien, weil ein Teil davon schon von den Amerikanern befreit worden war. Deswegen war Europa in zwei Lager getrennt, und die von uns befreiten Völker hatten sich dann freiwillig für den Sozialismus entschieden. Die anderen mussten den kapitalistischen Weg einschlagen, weil sie von den Amerikanern unter Druck gesetzt wurden. Mit Deutschland war es etwas komplizierter. Das Land war aus ideologischen Gründen geteilt worden. Alle Exnazis fanden in Westdeutschland Unterschlupf, und die Antifaschisten gründeten die sozialistische DDR." Es ist dieser spielerische Umgang mit der Sprache, dieser Wortwitz und diese Ironie, die sich wie schon bei seinen früheren Werken durch das gesamte Buch zieht, und die seine Originalität ausmacht.

Seine Kritiker machen Kaminer mittlerweile einen breiten Katalog von Vorwürfen: Er erzähle in all seinen Büchern letztlich nur in kurzen Geschichten sein bisheriges Leben und das ihm nahestehender Personen nach, seine Figuren würden dabei jedoch größeren geistig-seelischen Tiefgang vermissen lassen - und so weiter und so weiter. Dem bleibt entgegenzuhalten, dass Kaminer wohl genau dies tun will, mit interessanten, skurrilen Geschichten unterhalten. Und das gelingt ihm zumindest in einer gleichermaßen schönen wie eingängigen Sprache und mit einer wohltuenden Prise Ironie sich selbst gegenüber und vor allem auch gegenüber seiner "alten" und "neuen" Welt. Im Gegensatz zu manch anderem Autor der Pop-Generation, zu der auch Kaminer ob zahlreicher Fernsehauftritte, überfüllter Lesungen in Szene-Etablissements und ähnlichem mittlerweile gezählt wird, hat er in diesen Welten nämlich wirklich Lesenswertes erlebt. Hat er? Können wir es wirklich glauben? Halten wir es nicht mit Brecht, glotzen wir einfach so romantisch und glauben ihm. So viel Phantasie könnte einer allein doch gar nicht haben!

Titelbild

Wladimir Kaminer: Die Reise nach Trulala.
Goldmann Verlag, München 2002.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3442545420

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