Dekonstruktion linker Bewegungen

Gerd Koenen meditiert über den Knick in der historischen Optik der 68er

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Betrachter der Jahre 1967-1977 sah sich Gerd Koenen einem Phänomen gegenüber: Einerseits erklärt er dieses Jahrzehnt zu den "glücklichen zehn Jahren", die die Gesellschaft der BRD erleben durfte. Andererseits muss er sich mit zahllosen Biographien seiner Generation - einschließlich seiner eigenen - Fauseinandersetzen: sie alle haben in jenen wunderbaren Tagen einen furchtbar engagierten Kampf gegen die Gesellschaft ausgefochten. Da scheint es nur logisch, wenn ein abgeklärter, gereifter Mensch wie Koenen auch seine Läuterung sogleich unter Beweis stellen möchte, indem er als folgerichtiges Resultat dieses Widerspruchs sich und seiner Generation große gesellschaftliche Wahrnehmungsdefizite attestiert. "Im nachhinein ist offenkundig, dass wir uns in der Zeit und der Gesellschaft, in der wir lebten, weitgehend vertan und versehen haben." Vertan und versehen, "Das rote Jahrzehnt" war also ein einziges Missverständnis, das heute einer sozial- und kulturgeschichtlichen Aufklärung bedarf.

Diese knallharte Analyse zu liefern hat sich der Autor auf die Fahnen geschrieben. Doch bevor er in medias res geht, wird noch eine vorauseilende historische Analogie angestrengt, die endgültig zeigt, was des Autors Stoßrichtung sein soll. Als "jeunesse doree" bezeichnet er die Apologeten der linken Bewegung dieser Zeit, also als reiche, genusssüchtige Großstadtjugend, welche sich einer reaktionären politischen Aktion verpflichtet. Das ist also der nächste Schritt in der Geschichtsexegese Koenens, nämlich die Kontrastierung eines fortschrittlichen, liberalen Gemeinwesens mit einer fanatischen, komplexbehafteten Gegenbewegung. Gerade hier bestimmte eben nicht das Sein das Bewusstsein, sondern eine paradoxe, ja geradezu pathologische Abwehr einer doch dem Fortschritt verpflichteten Gesellschaft gegenüber gelte es zu konstatieren. Eine Politik narzistischer Selbstbeweise und theoretischer Größenphantasien verstellte völlig den Blick auf eine empirische Gegenwart, die in ihren konkreten Lebensverhältnissen überhaupt nicht mit den virtuellen Realitäten der akademischen Linken korrespondierte. Tragisch würde man es nennen, wenn der Behauptung Koenens beizupflichten wäre, dass die Linken selber Opfer einer Blendung gewesen sind. Eine Blendung, die daraus resultierte, dass das Vertrauen in die Gesellschaft, aus der man stammte und in der man aufgewachsen ist, durch deutsche Verbrechens- und Kriegspolitik unterminiert war und man somit an einer eigenen Identität basteln musste. Der Clou an diesem Vorgang der Geschichtserinnerung ist für Koenen, dass dies vor allem zur Selbstfindung und Machtausübung der jungen Generation diente. Mehr als Flucht vor der eigenen Leichtigkeit, denn als tatsächliche Abwehr nationalsozialistisch geprägter Eltern soll einem der Umgang der Nachkriegsgeneration mit den Verbrechen Deutschlands hier erklärt werden. Jene Verbrechen nämlich "blieben unser unsichtbares moralisches Negativkapital, das unseren Status deutlich erhöhte, das Pfund, mit dem wir wucherten." Es gab neben den tatsächlichen, empirischen Gründen für das Aufbegehren gegen die Gesellschaft eine wohlstandsgesellschaftlich-postmaterialistisch fundierte Generationskrise. Diese Berufung auf Ingleharts Wertewandeltheorie lässt den Generationenkonflikt als eine ganz normale, sozialisationsbedingte Wertekluft erscheinen, die einen Prioritätenkonflikt zwischen den materialistischen Eltern und den postmaterialistischen Kindern bedingte. Doch Koenen verschweigt, dass in Ingleharts Untersuchungen eigentlich immer die Prämisse gesetzt ist, dass in einer Wohlstand akkumulierenden und traditionell ökonomisch-materialistische Ziele verfolgenden Gesellschaft tatsächlich demokratische und freiheitlich-kulturelle Defizite anzutreffen sind. Dieses Hinweggehen über eigentlich offensichtliche Tendenzen ist natürlich mit Koenens Verweis auf die reine Theoriechimäre zu erklären, die für dieses große Missverständnis verantwortlich zeichnet. Ein rein mentales Problem sei sie also, diese Rebellion. Viel besser scheint da wirklich der Generationsentwurf von Heinz Bude zu sein, dem von Koenen häufig zitierten Soziologen, der eine Gemeinschaft der Haltung, die sich dem Traditionalismus der Kritik entwinden will, postuliert. Diese wird auf keine "Moralkeulen" mehr reinfallen, denn nun hat man einen Puffer, der eine zivilisatorische Distanz zur nationalsozialistischen Vergangenheit schafft. Somit schicke es sich nun, "die Berliner Republik jenseits vergangenheitspolitischer Alarmreflexe zu begründen". Das geistige Umfeld, das Koenen hier also aufsucht, fordert auch von gegenwärtigen und künftigen Generationen, den großen Fehler, der das Rote Jahrzehnt erst hat entstehen lassen können, nicht zu machen, nämlich sich an dunklen Vergangenheitskapiteln abzuarbeiten, die einem nun wirklich nicht mehr weiterhelfen können. Entsprechend entwirft er ein Bild des Jahrzehnts, das hauptsächlich als Skurilitätenkabinett zu lesen ist, in dem die ständigen Annäherungsversuche der Studenten zum Proletariat in Form der revolutionären Betriebszellen und die Huldigungen der Septemberstreiks mit ihrem Epizentrum im Ruhrgebiet als Anfang einer revolutionären Bewegung amüsant und grotesk anmuten.

Hoch anzurechnen ist Koenen allerdings, dass er mit seiner schonungslosen Chronistenstimme einige Züge der linken Bewegungen dekuvriert, die häufig unterschlagen werden. So macht er luzide deutlich, welch lebendiger Antisemitismus doch unterschwellig im Gewande des Antizionismus anzutreffen war, aber auch welche Banalisierung deutscher Verbrechen unter dem Banner der Frauenbewegung möglich war. So wird in frühen Texten der Frauenbewegung das Patriarchat zum schlimmsten Genozid der Weltgeschichte, zum Verbrechen, das den Vergleich mit dem Holocaust zwingend macht und ihn sogar übertrifft. Auch dokumentierte Anschläge der Revolutionären Zellen, RAF und Tupamaros Westberlin auf jüdische Einrichtungen und Solidarisierung mit Attentaten auf Juden, wie während der Olympiade 1972 in München, lassen keinen Zweifel an einem mehr als latenten antisemitischen Credo, zu dem auch Hans Magnus Enzensberger eine ganze Menge beizusteuern hatte. An diesen Stellen werden die Auswüchse dieser Bewegung sehr eindrücklich und Gewinn bringend dargestellt und auch die Kongruenz zu damaligen sowjetischen Kampagnen belegt: "Der Zionismus erschien darin als die militante Speerspitze, wenn nicht sogar das wahre Zentrum und der geheime spiritus rector des gesamten Weltimperialismus."

Das rote Jahrzehnt, das hier also definiert ist als die Zeitspanne zwischen dem 2. Juni 1967, dem Tag, an dem Benno Ohnesorg durch Polizeikugeln starb, und dem 18. Oktober 1977, als in Stammheim Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen aufgefunden wurden, wird demgemäß insgesamt als ein sehr vielfältiges, atomisiertes, subkulturelles Zeitalter beschrieben, das zwischen den zahlreichen Gruppierungen von DKP über Splitterparteien bis hin zu den Trotzkisten seine Kraft und politische Breitenwirkung immer weiter verlor und sich nur noch in einen gewaltsamen Terrorismus flüchten konnte. Das sektiererische Element dieser später entstehenden lokalen Zirkel mit ihren psychischen Druckmechanismen lassen für Koenen ein positives Erinnern an diese Phase der 70er Jahre unmöglich werden. Stattdessen muss man sich hier abarbeiten an der Dekonstruktion linker Strömungen dieser Zeit, die in das "Rote Jahrzehnt" fallen. Die linke Politik dieser Periode wird hier zur pathologischen, inhaltsleeren Blase, die letztlich nicht mehr als einen Irrweg im Leben darstellt, den einzuschlagen nur dann in Ordnung war, wenn man aus den Fehlern gelernt hat und geläutert wie Koenen auf den vorformatierten, "richtigen" Lebensweg zurückkehrt. Von verruchter Aussteigerexistenz will er wohl heute nichts mehr wissen, und um seinen Lebenswandel für sich und alle anderen glaubhaft zu machen, wird kurzerhand eine dekade Gegenkultur zum Irrtum. Soziologisch wie empirisch sehr bemüht und kenntnisreich gelingt es ihm auch - trotz aller Brachialität und zu auffälligem Abrechnungsbedarf - seiner Argumentation Noten von Erkenntnisgewinn beizumischen. Wie Koenen so passend schreibt: "Wir versammelten auch nicht gerade die Unbegabtesten."

Titelbild

Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Kulturrevolution 1967-1977.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
554 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3462029851

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