Das Spiel ist wie Krieg

Zygmunt Bauman erkundet die postmoderne Befindlichkeit und die Befindlichkeit der Postmoderne

Von Matthias FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Franke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Reflektieren über die Moderne ist postmodern. Es setzt den Projekten der Moderne ein Ende: Die großen sozialen Utopien sind überholt, aus dem Alptraum von gesellschaftlicher Homogenität ist man erwacht, die Kultur übt weniger Zwänge aus und die uniforme Normalität verschwindet. Doch dem postmodernen Akzeptieren des Ambivalenten, dem friedlichen Nebeneinander von Gegensätzen wurde lang genug gehuldigt. Zygmunt Bauman diagnostiziert ein "Unbehagen in der Postmoderne"!

Als Ursache für "Das Unbehagen in der Kultur" stellte Freud 1930 den Verzicht des modernen Individuums auf Glücksmöglichkeit zugunsten von Sicherheit fest. Dies kehrt sich nach Bauman für die Postmoderne um: "Postmoderne Männer und Frauen haben ein Stück ihrer Sicherheitsmöglichkeit gegen ein Stück Glück eingetauscht[...]. Das 'Unbehagen der Postmoderne' entsteht aus einer Freiheit, die auf der Suche nach Lustgewinn zuwenig individuelle Sicherheit toleriert." In seinen älteren Schriften hat sich der Soziologe ausgiebig mit der Sicherheit und Eindeutigkeit gesellschaftlicher Strukturen beschäftigt, die der Faschismus hervorbrachte. Vor diesem Hintergrund verweigert Zygmunt Bauman ein Plädoyer für mehr politische Regulierung, moderne staatliche Sicherung und für ein Zurück in die trügerische Geborgenheit vormoderner Kommunität. Philosophie stößt meist nur auf öffentliches Interesse, wenn sie mutmaßlich neokonservative Töne anschlägt. Dagegen gelingt es Bauman, populär zu schreiben, ohne vulgär zu argumentieren. Der Eklektiker bleibt bei dem, was er brillant beherrscht: bei der Gegenwartsanalyse. Wie reagieren Menschen auf die Fragmentisierung der Identitäten, auf wachsende Differenzen zwischen den Lebenswelten, den Verlust sozialer Absicherung? Eine Annäherung an die Problematik gelingt durch den Vergleich postmoderner mit moderner Lebensführung. So sei die moderne Familie "das einzige Trainings- und Drillgelände für Frauen und Kinder; daß sie für das männliche 'Familienoberhaupt'[...] nur eine sekundäre Rolle spielte, wurde durch die Art und Weise bestätigt, wie man männliche Sexualität verstand[...]. Der wahre Platz des Mannes war die Welt jenseits der vier Wände der Familie. Innerhalb dieser Wände ähnelte seine Rolle des männlichen Meisters der des Vorarbeiters in der Fabrik oder des Feldwebels in der Armee."

Nach Bauman löst sich heute jedoch die Sexualität aus dem dichten Gewebe erworbener Rechte und übernommener Pflichten heraus: "Abgesehen vom Sex selbst und den das Zusammentreffen begleitenden Gefühlen hat die sexuelle Begegnung keine weiteren Folgen; der Sex, so könnte man sagen, hat die vier Wände der Familie verlassen und ist auf die Straße gegangen, wo nur zufällige Passanten sich begegnen, denen in diesem Moment schon klar ist, daß sich ihre Wege früher oder später - eher früher denn später - wieder trennen werden." Auf diese Weise propagiert der gegenwärtige sexuelle Diskurs ein Abkühlen zwischenmenschlicher Interaktion: "Erst wurde die erotische Liebe durch das Reinigen der Partnerschaft auf Sex reduziert; dann wurde die Partnerschaft - im Namen ihrer Säuberung von allen unsauberen sexuellen Absichten - von der Liebe gereinigt."

Beeindruckender als diese Aufbereitung von Michel Foucaults "Sexualität und Wahrheit" sind Baumans Essays über den Niedergang des Wohlfahrtsstaats, die "Kultur als Verbraucherkooperative" oder die Utopie von Reinheit. Bauman, der 1968 im Rahmen antisemitischer und antiintellektueller "Säuberungen" seinen Lehrstuhl in Warschau verlor, deutet die moderne nationalsozialistische Endlösung als eine ästhetische; sie säuberte die Gesellschaft von dem, was sie als störenden Schmutzfleck definierte. "Der moderne Reinheitsgedanke drückte sich in täglichen Strafaktionen gegen gefährliche Bevölkerungsklassen aus; das postmoderne Reinheitsstreben drückt sich in täglichen Strafaktionen gegen die Bewohner heruntergekommener Straßen und verslumter Viertel, gegen Vagabunden und Tagediebe aus." Nachdem also kollektive Ordnungsmodelle diskreditiert sind, wird gesellschaftlicher Mißerfolg wieder dem Individuum angelastet und auch am Individuum bestraft. Früh- und vormoderne Diskurse erleben eine eigenartige Renaissance. Im freien Spiel der Zugehörigkeiten "muß man die Nöte und das Elend der davon Ausgeschlossenen - was man einst als kollektiv verursachtes Übel betrachtete, dem mit entsprechend kollektiven Mitteln abzuhelfen war - zwangsläufig zu einem individuellen Verbrechen umdeuten." So stammt die überwältigende Mehrzahl der Todeskanditaten in US-amerikanischen Gefängnissen aus der sogenannten Unterschicht, einem Arsenal, in dem die Fehlschläge und die überflüssigen Schandflecke der Konsumgesellschaft verwahrt werden.

In ähnlicher Weise referiert Bauman über "Die Unmöglichkeit einer Avantgarde", über "Postmoderne Religion" und die Unsterblichkeit im kollektiven Gedächtnis des cyberspace. Seine Beobachtungen sind hellsichtig, die Argumente scharfsinnig, die Formulierungen treffend. Zwar wiederholen sich die Denkfiguren, doch die Aufmerksamkeit des Lesers bleibt von den immer neuen Aspekten Baumanscher Gegenwartsanalyse gefesselt. Der Wust verschiedener Themen macht zwar die Lektüre von "Unbehagen in der Postmoderne" spannend, beleidigt aber auch den aufgeklärten Ordnungssinn.

"Postmoderne Ethik" ist dagegen kein solch bunter Essayband. Bauman bleibt in seinem Alterswerk beim Thema; und das ist abstrakter, als man es von dem philosophierenden Soziologen gewohnt ist. Etwas zu unschöpferisch entwickelt er seine Moralphilosophie aus Emmanuel Lévinas` "dialogischem Denken", das an die jüdische Tradition von Martin Buber erinnert. Lévinas geht aus von dem seit Wittgenstein geschwundenen Vertrauen in die Sprache, einer "Dekonstruktion" der hergebrachten Metaphysik und des Erbes der Aufklärung. Doch Zweifel an der Verläßlichkeit der Sprache führen bei ihm nicht dazu, daß "das zu Sagende" gleichgültig wird, daß Indifferenz die Verantwortlichkeit ersetzt: aus der offenen Begegnung mit dem ungeschützten "Antlitz" des Anderen ergibt sich ein "An-Spruch", ein Anspruch des Anderen auf Kenntnisnahme und Antwort. Sein bloße "Anderssein" beinhaltet schon den Vergleich des Selbst mit dem Anderen; es bedeutet für das Selbst, gegenüber dem Anderen Position zu beziehen. So macht etwa die Position der Nähe zwischen Selbst und "Antlitz" aus dem "Anderssein" ein "Fürsein", sie läßt das Selbst moralisch "für den Anderen" sein.

Virtuos zitiert Bauman große Geister, und wie gewohnt sind sie ihm dienstbar: gefügig vereinen sich Ideen von Jean-François Lyotard, Jacques Derrida, Jean Baudrillard und Richard Rorty mit dem vergleichsweise konventionellen Denken Lévinas`. Moralität lasse sich nicht durch moderne Gesetzlichkeit festschreiben, ohne ihren Charakter als Impuls der Verantwortlichkeit gegenüber dem Anderen zu verlieren. Die moderne Vernunft und Pflicht zwängt Moralität in Faustregeln der Konvention und Sittlichkeit, die eine Begegnung mit dem "Antlitz" zur kalten, unverbindlichen "Vergegnung" machen: "Wenn der Andere sich in die Vielen auflöst, wird zuerst das Antlitz aufgelöst. Ich habe es nun mit Masken zu tun. Die Maske bestimmt, mit wem ich es zu tun habe und wie meine Reaktionen ausfallen sollen." Die Zivilisation hat also die Urszene moralischen Verhaltens gegenüber dem "Antlitz" eher zurückgedrängt, marginalisiert und verhindert. Kriege, Folterungen, Völkermorde und andere kalkulierte Grausamkeiten werden von Männern ausgeführt, die glauben, daß ihre Tat gerechtfertigt und notwendig sei. Die moralische Erörterung delegieren sie an "externe Gesetzgebungsagenturen", wie die Staatsdoktrin, die Ideologie oder auch die moderne Moralphilosophie.

Deren "lange Suche nach gesicherten Begründungen moralischen Verhaltens dreht sich hier im Kreise. Den a priori als launisch und sprunghaft deklarierten Gefühlen mißtrauend, setzten die Begründungssucher [Philosophen] auf die rationalen Entscheidungsträger[...]. Am Ende ist das moralische Subjekt aus den Banden autonomer Gefühle gehakt worden, nur um in das Geschirr heteronomer Regeln eingespannt zu werden. Die Suche, die mit dem Mißtrauen gegenüber der moralischen Befähigung des Selbst beginnt, endet damit, die Berechtigung des Selbst zu moralischen Urteilen zu leugnen."

Für ein Leben in der Postmoderne gilt es, dieser Enteignung der Moral zu widerstehen und sich den "moralischen Impuls" wieder anzueignen. Nicht die gesellschaftliche Struktur, sondern die individuelle Lebenspolitik entwickelt und formt eine moralische Einstellung. In "Flaneure, Spieler und Touristen" stellt Bauman typisierte Lebensstrategien vor, die seine Thesen zur "Postmodernen Ethik" ergänzen. Baumans Sprache balanciert elegant zwischen dem Bombastischen der Metaphern, einer harten Unmißverständlichkeit und der oft angemessenen Feinfühligkeit. Leider ist "Flaneure, Spieler und Touristen" gedanklich nicht so spektakulär wie sprachlich. Das "Pilgern" sei die Lebens-strategie des modernen Utopisten, der das Wahre und Gute immer an anderem Orte vermutet: "Das Ziel, der gesetzte Zweck der Pilgerreise des Lebens, gibt dem Formlosen Form, macht aus dem Fragmentarischen ein Ganzes, verleiht dem Episodischen Kontinuität." Doch aus den alten, ernsthaften Projekten ist in der Postmoderne ein Spiel geworden. Das Spiel kurz zu halten, weil die Regeln dauernd wechseln können, wurde zur Aufgabe postmoderner Lebensgestaltung. So fehlt Baumans postmodernem "Flaneur" die Ernsthaftigkeit des modernen "Pilgers"; das Zusammentreffen mit Anderen wird ihm zum kurzen Genuß, zum Konsum ohne Konsequenz.

Seßhaftigkeit und Beständigkeit sind zur unattraktiven Ausnahme geworden; der postmoderne "Vagabund" bleibt überall ein Fremder, es quält ihn die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Einzig dem Sammeln von Erfahrungen verpflichtet, ist auch der "Tourist" ständig an Orten, zu denen er nicht gehört. Doch im Gegensatz zu dem "Vagabund" hat der Baumansche "Tourist" ein Zuhause; zum Heimweh mischt sich die Furcht vor der Heimatgebundenheit: "Das Heim hält sich am Horizont des Touristenlebens als eine unheimliche Mischung aus Schutzraum und Gefängnis."

Baumans Erkenntnisse über "postmoderne Lebensformen" mögen richtig sein, gemessen an seinen früheren Schriften "Moderne und Ambivalenz" oder "Dialektik der Ordnung" sind sie eher dürftig: Dem postmodernen Spieler ist seine soziale Umwelt gleichwertig und gleichgültig - auch die Umwelt ist nur Mitspieler. Es gibt keine Notwendigkeit, keine Ordnung, kein Glück mehr, es gibt nur Spielzüge. Jedes Spiel ist ohne Folgen für das nächste. Aber weil es immer um den Sieg geht, ist für Menschlichkeit niemals Platz: "Das Spiel ist wie Krieg". Die Chancen der Moral stehen damit nicht besonders gut. Alle verschiedenen Lebensstrategien der Postmoderne haben die gemeinsame Tendenz, "menschliche Beziehungen fragmentarisch und diskontinuierlich werden zu lassen". Das Gegenüber wird nicht mehr als moralischer, sondern als ästhetischer Gegenstand wahrgenommen. Statt der Qualitäten des Anderen sind das eigene Interesse, die Erregung, die Befriedigung und das Vergnügen die Maßstäbe im Umgang mit dem Anderen. Die Welt ist ein Reservoir potentiell interessanter Objekte, die es zu sammeln und zu konsumieren gilt.

Auf der Basis einer solchen Gegenwartsanalyse Gesellschaft nicht konstruktiv gestaltet werden, ohne selbst wieder als modernes Projekt entlarvt und verworfen zu werden; die zukünftige Chance postmoderner Zustände kann Bauman nicht näher benennen, während er den Fluch der Postmoderne so treffend beschreibt. Das Projekt einer "Postmodernen Ethik" krankt an der eigenen Zielsetzung. Ethik, im Idealfall ein "Gesetzestext, der 'universal' korrektes Verhalten vorschreibt", ist in die Krise geraten. Baumans "Postmoderne Ethik" zeigt eindrucksvoll, daß es eben keine Ethik in der Postmoderne gibt.

Titelbild

Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen. Aus dem Englischen von Martin Suhr.
Hamburger Edition, Hamburg 1997.
270 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3930908301

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