Die Welt als Hölle und Nachstellung
Reinhard Jirgl fügt seinem Œuvre mit "Die Unvollendeten" ein weiteres Meisterwerk hinzu
Von Stephan Landshuter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMan muss Reinhard Jirgl für seine Kompromisslosigkeit bewundern. Seitdem er zu DDR-Zeiten begann, literarische Texte zu verfassen, bedeutet ihm die Genauigkeit der künstlerischen Form alles und der kommerzielle Erfolg nichts. Bevor der Ostblock zusammenbrach, durfte er praktisch nichts veröffentlichen, was ihn allerdings nicht davon abhielt, gewaltige Textkonvolute für die Schublade zu schreiben (die vor einem Jahr endlich, wenn auch leider nur in Typoskriptform, unter dem Titel "Genealogie des Tötens" veröffentlicht wurden). Aus damaliger Perspektive schrieb Jirgl für eine unbestimmte Zukunft: Wer immer diese Texte einmal in Händen hielte - und das hätte angesichts der scheinbaren Unerschütterlichkeit des Warschauer Paktes außerhalb der Lebenszeit Jirgls liegen können -, würde die Kraft dieser Texte schon erspüren.
Aber selbst nach der Implosion der DDR gab es für den ehemaligen Beleuchter an der Ostberliner Volksbühne zunächst kein Happy End als Schriftsteller, weil für seine auf den ersten Blick sperrigen Texte kein Lesepublikum vorhanden war. Sein 1990 veröffentlichter Roman "Mutter Vater Roman" war wie der ein Jahr später erschienene Roman "Im offenen Meer" Blei in den Regalen. Jirgl formuliert seine Ansicht über die Zeit nach dem Mauerfall unmissverständlich: "Der Bücherverbrennung von 1933 war die Bücherersäufung 1990 gefolgt." Nach 1991 gab es lange Zeit keinen Verlag mehr, der sich für diesen abseitigen Schriftsteller einsetzen wollte. Jirgl nennt diese Jahre seine "Klinkenputz- und Bauchladenzeit", in denen er sich um eine schriftstellerische Heimat bemühte, jedoch nirgends Aufnahme fand. Erst in dem Münchner Verleger Michael Krüger fand er einen Mentor, der die Wucht und Schärfe dieses Schriftstellers durchsetzen wollte, ohne ihm Zugeständnisse an den Massengeschmack abzupressen.
Sein erster im Hanser Verlag erschienener Roman "Abschied von den Feinden" schlug 1995 wie ein aus der Ferne kommender Komet in die literarische Landschaft ein. Dieses Meisterwerk, dem man allenfalls seine bisweilen etwas überanstrengte erzähltechnische Komplexität vorwerfen kann, zeigte bereits alle Eigenheiten und Stärken Jirgls: Zum einen war da die ganz außergewöhnliche Sprachkraft, die ihre Wurzeln wohl zum Teil im Expressionismus hat. Seltene Adjektive oder gewagte Metaphernkonstruktionen gibt es da zu bestaunen. Des Weiteren sprang sofort die ungewöhnliche Privatorthographie und -interpunktion ins Auge, die so manchen Unvorbereiteten schnell wieder versprengten. Dabei gewöhnt man sich schon nach ein paar Seiten so sehr an diese verfremdete Textgestalt, dass sie nicht das geringste Lesehindernis mehr darstellt. Und es wurde in diesem Roman auch klar: Die DDR according to Jirgl war keine kommode Diktatur, sondern ein schwarzes Loch, aus dem alles Licht gewichen war. Dieser Roman war eine passende und unmissverständliche Antwort für alle Ostalgiker, deren Verklärungen derzeit sogar in sinnfreien öffentlich-rechtlichen Fernsehshows stattfinden dürfen.
Auch in dem darauf folgenden Roman "Hundsnächte" (1997) entwarf Jirgl im Rückblick auf die DDR ein weiteres Mal ein rabenschwarzes Weltbild. Wieder zeichnete sich die dargestellte Welt durch die Abgründigkeit des Menschen und seine Geworfenheit in das ausweglos-mörderische Sein im real existierenden Sozialismus aus. Anstatt an der Schlechtigkeit des Menschen zu verzweifeln, beschreibt Jirgl sie in obsessiver und sprachmächtiger Weise. Würde Jirgl statt Romanen ein theoretisch-philosophisches Werk über sein Lebensthema schreiben, es könnte "Die Welt als Hölle und Nachstellung" zum Titel haben.
Im Frühjahr dieses Jahres nun erschien das Ergebnis eines Schreibprojekts, das Jirgl bereits im Nachwort der Typoskript-Ausgabe seiner DDR-Romane angekündigt hatte. Unter dem Titel "Die Unvollendeten" beschreibt Jirgl in seinem mittlerweile bekannten, einzigartigen Duktus den sudetendeutschen Auszug wider Willen aus den tschechischen Landen und die Auswirkungen einer solchen Vertreibung auf die Nachgeborenen, die latent unverwurzelt bleiben. Damit wagt er sich an ein Thema heran, das in der deutschen Literatur bislang schamvoll vermieden wurde, denn wer will schon als Ewiggestriger missverstanden werden. Es geht Jirgl hier explizit darum, einen "weißen Fleck im Erzählerischen literarisch zu besiedeln", und zwar "ohne jegliches Ressentiment und besonders ohne die Perpetuierung gegenseitigen Schuldzuweisens". Dieses Vorhaben ist ihm eindrucksvoll gelungen.
Im ersten der drei Teile wird die Vertreibung der Sudentendeutschen 1945/46 anhand von vier Frauen aus drei Generationen beschrieben: Johanna, ihre Töchter Maria und Hanna und, von diesen zunächst getrennt, die Enkelin Anna irren durch Deutschland und landen am Ende in einem abgelegenen Ort in der Altmark, also in der sowjetischen Besatzungszone. Erstaunlich ist hierbei die Detailfülle und die atmosphärische Eindringlichkeit, die durch die Beherrschung der Sprache entsteht. Jirgl schreibt tatsächlich so, als hätte er selbst diese von Erniedrigungen und Beleidigungen durchsetzte Odyssee der vier Frauen erlitten und dabei alle nur denkbaren Sinneswahrnehmungen minutiös registriert.
Der Roman als Ganzes spannt einen Bogen von den 40er Jahren bis zum Jahr 2002, womit auch in diesem Text Raum für die "affige Komödie" der "DeDeR" mit ihrer "EsEhDeh" bleibt. Im letzten Teil liegt der circa 50-jährige Sohn Annas im Sterben, er hat Krebs im fortgeschrittenen Stadium und blickt zurück auf sein Leben. Die Verbindung der Vertreibung und der Existenz in der DDR zu diesem letzten Kapitel werden nur angedeutet, sind aber von zentraler Bedeutung: Das Exil, in das seine Mutter, seine Groß- und Urgroßmutter getrieben wurden, dominiert auch sein Leben. Selbst die Nachgeborenen noch tragen die Entwurzelung der Familie mit sich herum wie einen "seelischen Buckel". Apart sind in diesem Schlusskapitel die Seitenhiebe, die dem moribunden Buchhändler, der hier natürlich als Sprachrohr des Autors dient, auf die zeitgenössische junge deutsche Literatur entfahren. Das Fazit, aus dem Jirgls geballte Ablehnung für überflüssige, uninspirierte Texte spricht: "Aus diesen Texten spricht kein!Muß, außer dem der Schreiber zum Geldverdienen. Daher 1 Schreibe, markthörig & bettlerisch ums Bonzentum geschart, Made in Kulturspeck". Aber nicht nur die jüngere Schreibergeneration, auch die älteren Kollegen, die immerfort ihre Tätigkeit bejammern, zu der sie weiß Gott wer verurteilt hat, bekommen ihr Fett ab: "wie 1 sam !wie beschwerlich! wie mühsam Dasschreiben sei, wie !froh sie wären, garnicht schreiben zu!müssen, sondern leben zu können: Firma Jammer & Stöhne. !Die sollten Telefonsex machen - da könntense mit Jammern & Stöhnen viel Geld verdienen."
Trotz aller stilistischen und darstellerischen Ähnlichkeit zu den vorangegangenen Werken ist auffallend, dass Jirgl zu einer neuen Leichtigkeit, einer Entspanntheit im Schreiben gefunden hat, ohne aber an Intensität einzubüßen. Dies könnte zum einen daran liegen, dass Jirgl mittlerweile traumwandlerisch sicher ist in der Anwendung seiner erzählerischen Mittel. Es könnte aber auch damit zu tun haben, dass Jirgl sich hier an ein ihm zunächst fremdes Terrain recherchierend herantasten musste, da ja die Zeit der Vertreibung weit vor der Geburt des jetzt 50-Jährigen liegt. So ist dies ein weiteres Juwel in einem wachsenden Œuvre, bei dem mit jedem Text deutlicher wird, wie bedeutend es ist. Aus diesen Texten spricht wahrlich ein ,Muss', und genau solche Romane werden überleben, im Gegensatz zu all den stuckrad-barresken Romänchen dieser Welt, die ohne jede Not den Markt überschwemmen und auch noch mit Literatur verwechselt werden.
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