Musik - die Leidenschaft, die Leiden schafft

Andrei Makines Roman "Musik eines Lebens"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich bin nicht mal in den Genuss der Amnestie nach Stalins Tod gekommen, habe die zehn Jahre bis auf den letzten Tag abgesessen", lautet einer der letzten Sätze, die Alexej Berg Ende der siebziger Jahre auf einer durch den Wintereinbruch unendlich langen Zugfahrt aus dem Ural nach Moskau seinem Gegenüber im Abteil anvertraut.

Andrei Makines "Musik eines Lebens" durchzieht ein elegischer Grundtenor. Der Protagonist Alexej (geboren im Jahr 1920), der bei der Eisenbahnreise sein Leben Revue passieren lässt, war in seiner Jugend ein hochbegabter Pianist. Er stand in Moskau kurz vor seinem ersten Konzert, als Stalins Geheimpolizei plötzlich seine Eltern verhaftete und verschleppte. Der Sohn aus gutbürgerlichem Haus ¾ der Vater hatte ein Theaterlexikon verfasst, das dann aus allen Bibliotheken verbannt wurde ¾ setzt sich in die Ukraine ab, wo es für ihn ums nackte Überleben geht.

Der Lauf der Geschichte zwingt ihn vom Konzertsaal aufs Schlachtfeld und lässt aus Alexej Sergej Maltsev werden. Mit der Uniform und den Papieren eines toten Soldaten will der Protagonist ein neues Leben beginnen. "Am Tag seiner ersten Verwundung stieß er auf ein weiteres Paradox. Er war Soldat geworden, um dem Tod zu entrinnen, doch die Gefahr zu sterben war hier viel größer als in einem Umerziehungslager, in das man ihn nach der Verhaftung seiner Eltern gesteckt hätte."

Er kämpft in der roten Armee gegen die deutschen Truppen und landet später als Privatsekretär bei einem General in Moskau. Seine Ähnlichkeit mit dem toten Soldaten führt bei Begegnungen mit dessen alten Freunden häufig zu gefährlichen Situationen. Mit einigem Geschick kann sich Alexej aber stets der lauernden Gefahr entziehen.

Doch die Liebe, die dem Sprichwort zufolge zur Blindheit führt, macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Es ist gleich eine doppelte Liebe, die zu Alexejs Enttarnung führt und ihm nach Kriegsende die lange Lagerhaft einträgt. Stella, die Tochter des Generals und leidenschaftliche Klavierspielerin, hat im Nu Alexejs Herz entflammt und seine Liebe zur Musik wiederbelebt. Der Schwindel fliegt auf, das Spiel mit der Doppelidentität Berg-Maltsev hat ein Ende.

Der 1957 in Sibirien geborene Andrei Makine (1995 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet), der seit mehr als 15 Jahren in Paris lebt und seine Romane auch in Französisch schreibt, hat auf knapp 130 Seiten anhand des pointiert nacherzählten Lebenswegs des Protagonisten Berg das Schicksal einer ganzen russischen Generation transparent gemacht. Lebensentwürfe aus der Vorkriegszeit sind jäh zerstört worden, und die Freude über das Ende des blutigen Krieges schlug jäh um in existenzielle Ängste vor politischer Verfolgung in der kurzen, aber nicht minder blutigen Stalinschen Nachkriegsära. Makines Hang zum blumigen Pathos, dem wir in vorangegangen Werken bisweilen begegnet sind, ist einer radikalen inhaltlichen Verknappung gewichen. Nur auf der Waage ist "Musik eines Lebens" das bisher leichteste Werk aus seiner Feder.

Titelbild

Andrei Makine: Musik eines Lebens.
Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003.
127 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3455051464

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