Unscharfe Bilder

Ulla Hahns Auseinandersetzung mit der deutschen Wehrmachtsvergangenheit

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer noch fungieren Fotografien als zentrale Dokumente der historischen Wirklichkeitsfindung. Trotz ihrer medientheoretischen Problematisierung im Zeitalter des Digitalen und des Bewusstseins des strategischen Wertes medial vermittelter Inszenierungen, haftet der Rezeption des Bildes - in seiner vermeintlichen Direktheit - unbewusst immer noch der Gestus des Dokumentarischen und damit des Realen, des Authentischen, an. Dass die Fragwürdigkeit des Bildes nicht nur eine medientheoretische, sondern vor allem eine geschichtliche und damit auch sehr persönliche Dimension bekommen kann und hinter jeder Lektüre eines Bildes auch die Produktivkraft imaginativer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen steht, könnte der strukturelle Subtext des neuen Buches von Ulla Hahn sein. Während sie auf der inhaltlichen Ebene die derzeit in der deutschen Literatur Hochkonjunktur erlebende Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit in der Zeit von 1933 bis 1945 fortschreibt.

Auslöser des dramatischen Konflikts ist ein unscharfes Bild in einer Ausstellung, die sich mit dem Verhalten der deutschen Wehrmacht während des Krieges auseinandersetzt. Die promovierte Studienrätin Katja Wildt will ihren Vater, Oberstudienrat a. D., auf einem der Bilder wiedererkannt haben. Sie konfrontiert den 82-jährigen Pensionär mit einem Katalog, in dem das entscheidende Bild nicht abgedruckt ist. Die Ausstellung selbst besucht der Vater nicht.

Im Mittelpunkt des Romans steht das insistierende Verhör der Tochter und deren physische wie psychische Folgen für beide. Nicht nur wegen der treibenden Kraft von unliebsamen Fragen und ebenso unliebsamen wie unerwarteten Antworten bestimmt den Roman das Dialogische in einer besonderen kammerspielartigen Zuspitzung des Konflikts. Es bleibt ein Dialog zwischen Vater und Tochter und damit zwischen den Generationen - und dies konzentriert auf einen kurzen Zeitraum. Die wenigen Nebenfiguren pointieren die Ereignisse, die wenigen Schauplätze außerhalb des Altersheims liefern ein ebenso persönliches empfundenes wie überzeugend vermitteltes hanseatisches Lokalkolorit.

Eine neue oder gar produktiv verstörende Perspektive auf die wenig rühmliche deutsche Vergangenheit bietet die Autorin jedoch nicht. Die einzig auf das persönliche Erleben fokussierte Auseinandersetzung des Vaters mit seiner Vergangenheit ist bestimmt von einer ebenso wohlausgewogenen Rhetorik wie flüssigen und leicht eingängigen Erzählweise. Hier amalgieren sich die Gräuel des Krieges, der Verlust von Freunden, die Schreckensherrschaft autoritärer Vorgesetzter, der Widerstand, das Desertieren, schließlich die beginnende Liebe zu einer russischen Widerstandskämpferin und die Flucht in die ebenso intellektuell wie zeitlich distanzierte Antike zu einer Biografie ohne verzögernde Kanten oder produktive Widersprüche. Zudem wird die Tochter zum offensichtlichen Medium des Metatextes, reflektiert die narrativen und poetisierenden Dimensionen der Sprache, die persönliche Sicht auf und die individuelle Verwobenheit in Geschichte, die psychologischen Ausweichbewegungen des Vaters, die eigene Ohnmacht, konkrete Fragen zu stellen, letztlich das biografisch bestimmte Verhältnis von Fragen und Fragendem.

Es gibt letztlich kein Gut und kein Böse. Das mag man mit Blick auf die ebenso falsche Strategie der Schwarz-Weiß-Malerei positiv lesen, jedoch ist das bei Hahn verfolgte Konzept zu durchsichtig, um in dieser Hinsicht zu überzeugen. Zudem ist es das nach allen Seiten abgesicherte und von austarierter Balance zwischen Emotion und Rationalität bestimmte Milieu, das der Auseinandersetzung jede Schärfe und jeden wahrhaft bedrohlichen Charakter schon im Ansatz verweigert. Letztlich werden allein die Körper und die Gesundheit der beiden Protagonisten zu somatischen Seismographen, ohne jedoch eine überindividuelle Dimension zu erlangen. Das ist vielleicht zu wenig und verschenkt auf jeden Fall die produktiven Leistungen und vielfach möglichen Erkenntniszugewinne eines unscharfen Bildes, das nicht immer scharfgeränderte Konturen und starke Kontraste bekommen muss, um einen genaueren und vielleicht einzigartigen Blick zu ermöglichen.

Titelbild

Ulla Hahn: Unscharfe Bilder. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003.
180 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3421057990
ISBN-13: 9783421057990

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