Der ultimative sexistische Gewaltakt

Christine Künzels erhellende und zugleich beklemmende Studie zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Julietta! Diese Kugel rächt dich!" Mit diesem Ausruf kündigt Graf F... der Marquise von O... nicht etwa tödliche Vergeltung an, die er als heldenhafter Verehrer der schönen Witwe an einem Mörder, Straßenräuber oder sonstigem Verbrecher - in diesem Falle an einem Vergewaltiger - üben will. Vielmehr ist er selbst es, der sich an der bewusstlosen Frau vergangen hat und im Glauben, während eines Gefechtes tödlich getroffen worden zu sein, mit seinen vermeintlich letzten Worten sein Gewissen erleichtert. Kleists Erzählung "Die Marquise von O..." stelle eines der "ambivalentesten und zugleich eklatanten Beispiele der Repräsentation von 'Vergewaltigung' in der deutschsprachigen Literatur" dar, erklärt die Berliner Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel in ihrer erhellenden Studie zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht, in der sie die Novelle im Kontext des zeitgenössischen medizinisch-juristischen Diskurses untersucht. Eine der zentralen Fragestellungen der Erzählung gelte der bis ins 19. Jahrhundert kontrovers diskutierten Möglichkeit der Schwängerung ohne Bewusstsein der Geschwängerten, an die sich die Frage der Glaubwürdigkeit der Marquise von O... knüpft. Künzels besonderes Interesse gilt dementsprechend dem unterschiedlichen Vertrauen, das die Figuren - vor allem die Eltern der Marquise - der Titelheldin und dem Grafen entgegenbringen. Die Glaubwürdigkeit des Letzteren, so konstatiert die Autorin mit Erstaunen, werde von den Eltern der Marquise selbst nachdem er sich schließlich als "'Notzüchtiger' der Tochter" zu erkenne gegeben hat, nicht in Frage gestellt. Ihr Vertrauen in die Wahrhaftigkeit dieses fremden Mannes ist schier unerschütterlich. In krassem Gegensatz hierzu muss die Marquise gegenüber ihren Eltern von Beginn an um ihre Glaubwürdigkeit kämpfen, "also gerade gegenüber den Personen, die auf der Basis lebenslangen Vertrauens für ihre Ehrlichkeit bürgen können sollten". Die Beweislast liege - auch bei heutigen Gerichtsverhandlungen noch gang und gäbe - gänzlich bei der betroffenen Frau. Doch liefere Kleists Text immerhin Indizien dafür, "daß die Mutter einsieht, daß die peinliche Inquisition und Untersuchung zur Feststellung von Glaubwürdigkeit sich gänzlich auf die falsche Person konzentriert", was Künzel zufolge als "Entlarvung eines einseitig ausgerichteten Erkenntnisinteresses in Vergewaltigungsfällen" gelesen werden kann.

Ebenso einleuchtend wie Künzels Kritik an der bisherigen Sekundärliteratur, der sie vorwirft, bisher weniger in eine "kritischen Reflexion der literarisch-ästhetischen Repräsentation sexueller Gewalt" geleistet, sondern sie vielmehr reproduziert zu haben, ist ihre eigene Interpretation, in der sie mit innovativen Ideen brilliert. So schlägt sie etwa vor, "den Auftritt des Grafen im Garten der Marquise als eine Parallele zur ausgelassenen Vergewaltigungsszene zu lesen" und das Ende der Novelle als "Schlüssel" zu einer Lektüre zu verwenden, aus deren Perspektive sich der ganze Text als eine "Parodie auf das Scheitern von Rechts- und Gerechtigkeitsansprüchen sowie als Kritik zeitgenössischer Gerechtigkeitsdiskurse und Straftheorien" interpretieren lässt. Gehe es bei dem "vermeintliche[n] Happy End" doch nicht so sehr um eine "Entschädigung des Vergewaltigungsopfers durch den Täter", als vielmehr um die "Integration des Vergewaltigers in die soziale Ordnung".

Doch widmet sich die Autorin mit Kleists "Marquise von O..." nicht nur einem literarischen Text. Der umfangreichste Teil ihrer Arbeit gilt gesetzlichen und strafrechtlichen Definitionen von Vergewaltigung sowie Texten aus der Rechtspraxis, die sie als Literaturwissenschaftlerin jedoch explizit aus der Perspektive ihrer Wissenschaft liest, um so Aspekte deren kultureller Codierungen zu entdecken. Hierbei untersucht sie einen Prozess wegen Vergewaltigung im Schlaf, nach einer durchzechten Nacht, in dem der Angeklagte Ende des 20. Jahrhunderts freigesprochen wurde, obwohl die Richterin in der Urteilsbegründung die "äußerst tiefgreifende Verletzung" der Nebenklägerin hervorhob, und besonders ausführlich den zur trauriger Berühmtheit gelangten sogenannte "Berliner Gynäkologenprozess" aus den 1980er Jahren, in dem das sexistische Deutungsmuster sexueller Handlungen, das Gericht und Rechtssprechung mit den Angeklagten und ihren Verteidigern sowie schließlich einem Gutachter teilten, in zweiter Instanz zum Freispruch führte. Claudia Burgsmüller, eine der beiden Vertreterinnen der Nebenklägerin, sprach aus guten Gründen von einem "Kriegsgericht", "das urteilen soll im Krieg der Geschlechter". Die Anklage beschuldigte zwei Fachärzte für Gynäkologie, eine ihnen untergebene Anästhesistin in deren Bereitschaftszimmer in der Universitäts-Frauenklinik Charlottenburg vergewaltigt zu haben. Zwar hatte die einzige Ohrenzeugin durch die verschlossene Tür die Hilfeschreie der Nebenklägerin gehört, schritt jedoch nicht ein, da sie unter den männlichen Stimmen diejenige ihres Vorgesetzten erkannte. Zum Einschreiten bestand allerdings nach Ansicht des Gerichts auch keinerlei Veranlassung, schloss es sich doch der Auffassung des Gutachters Volkmar Sigusch an, der erklärte, dass "Schreie, auch Hilfeschrei" als "sexuelle Stimulans" beim Geschlechtsverkehr "durchaus nicht unüblich" seien. Da kann eine Frau also noch so sehr schreien und um Hilfe rufen, der Mann hört immer nur ihre Lust - und das Gericht folgt ihm und der These, "daß die Überwindung eines gewissen Widerstandes, also ein gewisses Maß an (männlicher) Gewalt, zum 'ganz normalen' Liebesakt gehöre, was den Spaß-Faktor aller Beteiligten - auch der betroffenen Frau - keinesfalls mindere".

Der dritte Teil der Untersuchung widmet sich dem "Problem der Glaubwürdigkeit der Frau", das etwa dazu führte, dass im Gynäkologen-Prozess auf die Erörterung der Glaubwürdigkeit des Opfers dreizehn Verhandlungstage verwandt wurden, aber lediglich drei auf die Verhandlung des Tatvorwurfs selbst. Die "ideologischen Codes", die dazu führen, dass Frauen als weniger glaubwürdig gelten als Männer, kommen nicht nur in der Gerichtspraxis zum Ausdruck, sondern schlagen sich auch in juristischen Standardwerken nieder, wo es zum Thema Glaubwürdigkeits- und Beweislehre schon mal heißt, dass pubertierende Jungs die "besten Zeugen überhaupt" seien, was, wie die Autorin referiert, "damit begründet wird, daß wohl niemand so aufmerksam und genau beobachte, wie der Junge. Dabei sei der Blick des Jungen weder durch eigene Probleme noch durch Parteinahme oder Vorurteile getrübt. Der Junge sei 'zu stolz, um zu lügen', er lasse sich im allgemeinen auch nicht leicht beeinflussen". Gleichaltrige Mädchen bezeichnen die Autoren des besagten Standardwerks, Rolf Bender, Susanne Röder und Armin Nack hingegen als "gefährliche Zeugen", die "manchmal zu Übertreibungen, ja Phantasien, mindestens zu einseitigen Parteinahme" neigen.

Im abschließenden vierten Teil legt Künzel dar, warum eine Vergewaltigung "weniger eine 'sexuelle', d. h. im biologischen Sinne geschlechtliche Handlung" ist, als vielmehr "ein Akt, indem sich das soziale Geschlecht im Sinne einer Zuschreibung von 'gender' und die Geschlechterhierarchie auf brutalste Weise manifestiert", sie also der "ultimative sexistische Gewaltakt" ist.

Ein Fazit ist schnell gezogen: Künzel hat ein außerordentlich wichtiges, in jedem seiner Teile überzeugendes - und manchmal auch sehr beklemmendes - Buch vorgelegt.

Titelbild

Christine Künzel: Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
302 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3593371413

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