Ein mächtiger Mythos von Erinnerung und Vergessen

Denis Johnsons Roman "Fiskadoro"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ätzende Wahrheit kommt auf Suppenlöffeln daher: "Memory is appetite". Ein kluger Besteck-Hersteller kam auf die Idee, dieses Zitat von Ernest Hemingway auf einen Löffelstiel zu ätzen, denn so kann er ihn um vieles teurer verkaufen. Wer aber mit der Erinnerung Scherz treibt, übersieht, dass sie nicht nur Beiwerk des Lebens ist, sondern rasch so maßlos werden kann, dass ihrem unstillbarem Appetit alles zum Opfer fällt: die Gegenwart zuerst, die sozialen Bindungen als nächstes, zuletzt wird die Person von ihrer Vergangenheit aufgezehrt und bleibt als Hülle zurück.

Was abstrakt klingen mag, bekommt in dem Roman "Fiskadoro" von Denis Johnson unvergleichlich sinnliche Qualität. Hier geht es um nichts weniger als die Rettung der Menschheit in einer Zeit nach der atomaren Apokalypse. Gleichwohl stehen keine dramatischen äußeren Handlungen, an denen es freilich nicht fehlt, im Vordergrund, vielmehr drastische Seelendramen.

Der dreizehnjährige Junge, genannt Fiskadoro, will Klarinette spielen und sucht sich einen Lehrer, Herrn Cheung vom "Miami Sinfonie Orchestra". So harmlos geht es los, doch dies ist der Beginn eines Mythos, woran der hymnische Anfang des Buches keinen Zweifel lässt. Der Schauplatz ist Florida um 2050. Dort hat sich nach der atomaren Katastrophe eine Schrumpfform der amerikanischen Zivilisation erhalten. Weiße, Chinesen, Israeliten, Desechados, Sumpfleute leben in und um Key West, das jetzt Twicetown heißt, weil gleich zwei Atombomben auf die Stadt niedergingen, ohne zu explodieren. Von den USA ist nur eine atomare Wüste geblieben; vom "Miami Sinfonie Orchestra" nur der Manager, Herr Cheung, und eine verzweifelte Laientruppe.

Wie die Welt zugrundeging, weiß niemand mehr, denn in zwei Generationen hat sich das Wissen in Mythen aufgelöst. Selbst die radioaktive Bedrohung sehen viele als eine Sache des Glaubens an, andere halten sie für ein Gift, wieder andere für eine Krankheit. Man ernährt sich von Fischen, etwas Zuckerrohr, Gemüse, Früchten. Die meisten Bücher sind zerstört oder verbrannt, die Sprache ist zu einem primitiven Pidgin-Amerikanisch mit spanischen Einsprengseln mutiert, was die Übersetzung gut wiedergibt. Die Religionen schließlich haben sich untereinander vermischt und mit Voodoo und Populärmythen angereichert, vor allem des Rock'n'Roll. So verehrt man nebeneinander "den Gott Quetzacoatl, den Gott Bob Marley und den Gott Jesus", hört den "großen Dichter Dylan" und die Stones, wenn gerade etwas Strom da ist.

In dieser grotesken Welt, die arm ist, aber nicht elend, lässt Denis Johnson seine Figuren nach der Bedeutung von Erinnerung und Vergessen suchen. Herr Cheung, der den Grund des Atomkriegs erfahren will, wird am Ende von seinen historischen Recherchen absehen, Fiskadoro wird zwar Klarinettespielen lernen, aber in einem seltsamen Initiationsritus seine Erinnerung verlieren. Und dann ist da noch Herrn Cheungs Großmutter, gut hundertjährig, lange Zeit in Dämmerzustand vegetierend, dazwischen tief hinabgeworfen in die Fluten der Erinnerung. Sie erlebte noch das Ende des Vietnamkriegs und den Fall von Saigon. Allein die Beschreibung dieser Erlebnisse benimmt dem Leser den Atem.

Seinen Romanen "schon tot" und "Engel" vergleichbar, reißt Johnson den Leser wieder tief hinein in eine schaurigschöne Schöpfung. Sein magischer Realismus, sein syntaktischer Drive, die raschen Schnitte, seine bilder- und vergleichsreiche Sprache beschwören diesen Kosmos in so großer Deutlichkeit herauf, dass die phantastischen Ingredienzien wie Voodoo und rauschhafte Initiationsriten, Geisterseher und prophetische Trancezustände direkte Evidenz gewinnen. Das ist überaus gekonnt, das Genie von Johnson besteht aber darin, über Pathos und Mythos das Komische und das Realistische nicht zu vergessen. Schmerzhaft und klar steht die Möglichkeit des Geschilderten vor Augen, heiter blitzen Scherze auf. Sein Faible für die "Schwarze Romantik" und die "Gothic Novel", die er in "schon tot" offenlegt, steigert offensichtlich Johnsons unerhörte Schöpfungskraft.

Es spricht für den Verlag, dass er "Fiskadoro", der 1985 in den USA und 1990 schon einmal auf Deutsch erschien, erneut (in revidierter Übersetzung) ins Rennen um die Lesergunst schickt. Der Erfolg sollte ihm sicher sein, treibt das Buch den Leser doch selbst in eine Art von Initiationsritus hinein, in dem er faszinierende Welten mit der Unmittelbarkeit eines Drogenrausches, jedoch um vieles wohlfeiler, erleben kann.

Titelbild

Denis Johnson: Fiskadoro.
Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ute Sprengler.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
255 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498032178

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