Getränkte Kritiker

Eine Dokumentation von Walter Fähnders und Andreas Hansen sammelt alle zu Lebzeiten Franz Jungs erschienenen Rezensionen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Torpedokäfer" - so nannte Franz Jung ein von ihm erfundenes Insekt, in dessen Verhalten er sich wiedererkannte, weil es "mit großer Kraft ein Ziel ansteuert und immer das Ziel verfehlt, mit dem Kopf anrennt, zu Boden geht und langsam sich wieder erholt um immer wieder von neuem zu starten". Sicher ist, dass der Expressionist, Revolutionär, Anarchist und Sozialist Jung eine der schillerndsten Figuren ist, die die deutsche Literaturgeschichte kennt. Das Bild vom Aktivisten und Tatmenschen überlagert dabei häufig das des Dichters und Dramatikers.

Ein Mann der Tat war Franz Jung aber offenbar auch, wenn es darum ging, den Literaturbetrieb auf sich aufmerksam zu machen. Wenn man seinem Freund Max Herrmann-Neisse Glauben schenken darf, war er für nicht wenige der über seine Bücher veröffentlichten Rezensionen selbst verantwortlich. In dem postum veröffentlichten Roman "Unglückliche Liebe" schreibt Herrmann-Neisse: "In München versuchte Elsner [d. i. Franz Jung] selbst die Reklame für sein Buch zu organisieren. Er herrschte diejenigen seiner Saufkumpane, die sich schriftstellerisch betätigten, wenn er sie gründlich getränkt hatte, an, sie sollten nun endlich über seinen Roman schreiben, und er legte ihnen auch gleich nahe, wie sie sich äußern sollten. Das führte im günstigsten Falle zu verstiegenen Lobeshymnen in obskuren Winkelblättern oder literarischen Zeitschriften, die niemand las."

Wer sich so alles von Jung "tränken" und zum Verfassen von Gefälligkeitsrezensionen verdonnern ließ, ist unbekannt. Doch bietet eine von Walter Fähnders und Andreas Hansen herausgegebene Sammlung nun die Möglichkeit für weitreichende Spekulationen. Enthält "Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer" doch sämtliche bekannten Rezensionen, Theaterkritiken und Hinweise, die zu Lebzeiten Jungs erschienen sind. Von den ersten Besprechungen im Zeichen des Frühexpressionismus 1912 bis zu den Nachrufen 1963 sind dies insgesamt über dreihundert Beiträge von über 150 Rezensenten aus etwa 150 Periodika. Geordnet sind die Texte nach dem Erscheinen der einzelnen Bücher Jungs: Jedem seiner dreißig Einzelpublikationen (26 Bücher und vier Theaterstücke) ist ein Kapitel gewidmet, das chronologisch sämtliche Rezensionen zu diesem Buch enthält. Die Rezensionen zu Jungs letztem Buch, seiner Autobiographie "Der Weg nach unten" (1961), sowie die Nachrufe zwei Jahre später bilden den Abschluss.

Damit wird nicht nur die Rezeptionsgeschichte Jungs in der Literaturkritik dokumentiert. Auch zur Erforschung der deutschsprachigen Literaturkritik im 20. Jahrhundert leistet diese Dokumentation wertvolle Beiträge. Da sind etwa die Frühexpressionisten, die die ersten Publikationen Jungs feiern, in der "Aktion", im "Pan" oder im "Sturm". Ernst Blass, Kurt Hiller, Paul Zech und Kurt Pinthus erkennen in Franz Jung einen der ihren; selbst Robert Musil äußert sich, von Samuel Fischer 1914 als Kritiker zur "Neuen Rundschau" geholt, um als Wegweiser und Wortführer die Literatur der "jüngsten Generation" zu begleiten, anerkennend: Man fühlt "bei diesem ursprünglichen, durch und durch ehrlichen Buch, daß mehr Kunst wohl bedeutender, aber wahrscheinlich auch ferner, ausgelaugter und raffinierter wäre." In der Revolutionszeit werden Jungs sozialistisch-operativen Texte von der bürgerlichen Kritik nahezu gänzlich ignoriert; allein sozialistische Medien wie die "Rote Fahne" Gertrud Alexanders, eine der wenigen einflussreichen Frauen in der Literaturkritik der Weimarer Republik, diskutieren sie, wie sich auch die sowjetische Kritik mit den ins Russische übersetzten Büchern beschäftigt. Diese russischen Rezensionen sind hier erstmals ins Deutsche übersetzt und vollständig dokumentiert. Erst in den 60er Jahren flammt das Interesse der Kritik an Jung wieder auf. Neben jungen Kritikern wie Jürgen Manthey oder Peter Härtling sind es auch einstige Weggefährten und Zeitgenossen wie Gerhart Pohl, Raoul Hausmann, Karl Otten oder Oskar Maurus Fontana, die dem "Torpedokäfer" ein letztes Mal die Ehre erweisen.

Titelbild

Walter Fähnders / Andreas Hansen (Hg.): Vom "Trottelbuch" zum "Torpedokäfer". Franz Jung in der Literaturkritik 1912-1963.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2003.
540 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-10: 3895282871

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