Das Anliegen des Lebens

Maike Wetzel legt mit "Lange Tage" einen neuen Band mit Erzählungen vor

Von Jens RomahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Romahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auffallend junge Menschen bilden dieses Mal das Personal der Erzählungen Maike Wetzels, und gehäuft tritt das Unvorhergesehene in das Leben der Figuren. Was zurück bleibt sind weniger die schmerzhaften Erfahrungen als vielmehr das Unbestimmbare eines zuvor so noch nicht gekannten Gefühls. Wenn man so will, "unthematische Lebensthematisierungen". Den Figuren fehlt aufgrund ihrer Jugend nämlich vorerst noch die Erfahrung, auf dem schmalen Grat eines schwierigen Alltags sicher zu wandeln. Keiner fühlt sich als Scout in eigener Sache. Die Autorin inszeniert gekonnt. Und der Sog das Alltags schickt die Figuren natürlich dennoch durch das Nadelöhr des unbedingt Lebensverändernden. In der Summe stößt der Leser auf mehr oder weniger unsanft verlaufende Adoleszenzgeschichten. Was daran gefallen kann, ist, dass Wetzel mit dem Laufband des Lebens nicht selbstgefällig umgeht, dass sie es vermeidet, prätentiöse "Pathosformeln" einzustreuen, dass sie nicht in den inzwischen langweilig gewordenen Archiven des Wissens der Generation Pop oder Golf kramt. Viel besser, ihren Geschichten eignet der Rausch der Stille.

Eine junge Schauspielerin, als rastlose Stadtnomadin unterwegs, nachdem sie übereilt in ein neues Leben nach Berlin aufgebrochen ist, bemerkt die ausgebliebene Trauerarbeit nach dem Verlust des Vaters erst allmählich: "Zwischen die ordnenden Gedanken schnitt plötzlich wie ein scharfer Blitz die Erinnerung an ihren Vater, an seinen Tod. Das Schlimme war nicht nur der Verlust. Furchtbar war, was sie alles nicht getan, gedacht, gesagt hatten". Ist es hier der frühe Vaterverlust einer Schauspielschülerin, ist es das andere Mal in der Erzählung "Rauchglas" die Zeugenschaft bei einem tragischen Autounfall: Fragen bleiben offen: Verübte der junge Unfalltote etwa gezielt die Schnellfahrt aus dem Leben?

Der Erzählband versammelt allemal Ereignisse, die ihre Hintergründigkeit aus einem noch zusätzlich eingestreuten Rätselcharakter beziehen: Der Leser wird nicht selten aus einem unklaren Fortgang der Geschichten entlassen. Dazu tritt der besondere Reiz eines Erzähltons, der wie ein Echolot am Boden des Lebensgeflechts der Figuren gründelt, die dort wie unter einem Netz aus Flor seltsam sich selbst überlassen richtungslos wie kleine Verfemte umherwandeln, wenn sie am Nachmittag, von der Schule ausgespuckt, nicht wirklich mit einem Lebenshunger auf die Straßen der Stadt stolpern und sich nicht an die Oberfläche bringen können: "Die Bäume, die gerade noch geblüht hatten, warfen ihre Blätter ab, und in den Geschäften gab es nur Treibhausgemüse. Die Leute behaupteten zwar, sieh hätten ihren Sommer gehabt, aber ich hatte nichts davon gemerkt. [...]. Die Leute glitten Meter vor mir zur Seite wie die Türen eines Supermarktes".

Wenn das schicksalsläufige Leben wie etwas lautlos Beiläufiges an die Tür klopft, skizziert Wetzel dies in gewohnter Dichte, keine Bemerkung zu viel, keine aufwendige Herleitung irgendwelcher Ursachen. In jener "komisch luftlosen Zeit" fehlt jeder ostentative Hinweis.

In "Aufklärung" meistert die Schule als Erziehungsanstalt ihren "Erziehungsauftrag" mehr schlecht als recht, verordnete Frauenarztbesuche kommen als holprige Entweihungen des Alltags daher, gut gemeint, aber nicht gut genug von einer Lehrerin, die, Erbgesetze deklinierend, "abwesend wirkte, versunken in die Welt der Dias". Von den Schwangerschaftsnöten einer Schülerin bemerkt sie nichts. Und viele, die erwachsen werden müssen, spielten gern noch eine Weile das Leben aber müssen merken, das dies schon lange kein Kinderspiel mehr ist: So versucht man sich in ersten Beziehungen zu definieren, unternimmt erste ekstatische Freiversuche in der Sexualität. Der Umgang mit dem "Gewicht der Welt" fällt schwer, man bleibt ohne Einblick, nirgendwo eine Formel für die ermutigende Selbstvergewisserung. Zurück bleiben junge Erwachsene, die am Ende vielleicht weniger gut zurechtkamen mit dem so großzügig vermessenen Freiraum, den ihnen die Eltern gewährte.

Manchmal verleitet dies die Figuren zu einem menschenfressenden Überschwang. Die Geschichte "Arme Ritter" macht in der nüchternen Perspektive des Rückblicks klar, wie Nichten und Neffen das unverstandene Leben ihrer Tante abfertigen. Schließlich ergreift diese die Flucht aus dem schützenden Kokon der bis dato eigenen Wohnung: "Wir entfernten eine Reißzwecke am Blumenposter in der Toilette. Eine Ecke rollte sich ein. Wir waren vorsichtig. Erst ein paar Tage später zogen wir die zweite Reißzwecke aus der Wand, ließen das Poster schief hängen. [...]. Schließlich schleppten wir die Zeitungen körbeweise hinaus. Wir gaben unsere Zurückhaltung auf. Gudrun fragte nach dem Stapel der "Allgemeinen" hinter der Tür, wir sagten, wir hätten ihn nicht gesehen. Sie ließ es auf sich beruhen. Wir räumten weiter auf." Irgendwann war die Tante dann weg und mithin auch der Anlass, Fragen an ihr Leben zu stellen. Die Geschichte hinterlässt Fragezeichen: Fehler der frühen Jahre?

Die abschließende Erzählung "Fremde Fenster" verbleibt wendungsreich: Eine Lehrerin traut der noch vorhandenen Sehnsucht nach einem nochmaligen Partner schon lange nicht mehr, lange versteht sie es, den Glauben an die Liebe zu kappen, ihn jedes Mal in ein Fragment einer wortreichen Wendung zu verwandeln, so als verjage sie einen unguten Geist: "Die Liebe ist das einsamste Geschäft der Welt. Alle Kunden zahlen in fremder Währung bei einem stummen Computer mit großen Augen." Dieses Mal kommt die Kehrtwende, gegen Ende sieht es so aus, als würde sie es noch einmal versuchen, es gibt jemanden, der ihren Widerstand bricht.

Titelbild

Maike Wetzel: Lange Tage. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
192 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3596160200

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