Reads like Cobain's spirit

Kurt Cobains "Tagebücher" anlässlich seines 10. Todestages

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Laut ist der Aufschrei des Entsetzens gewesen, als vor drei Jahren bekannt wurde, dass Cobains Witwe, die Rockmusikerin und Schauspielerin Courtney Love, seine Tagebücher veröffentlichen wird. Der breiten Öffentlichkeit wurde dabei von den Medien einmal mehr suggeriert, dass Ms. Love mal wieder nur Gewinn aus ihrer Ehe zu schlagen gedenke - sie dürfte sich inzwischen daran gewöhnt haben, schließlich wird ihr seit mehr als einem Jahrzehnt vorgeworfen, sie profiliere sich immer auf Kosten ihres Ehemanns. Denn es kann nicht sein, dass eine Frau nicht nur eine brillante Musikerin und Schauspielerin ist, sondern sich zudem auch noch - Skandal! - die Freiheit nimmt, ihre Meinung zu sagen und mit dem talentiertesten Musiker der 90er Jahre verheiratet zu sein. Glücklicherweise ist Sturheit eine der besten Eigenschaften Courtney Loves - wer sich nach dem Selbstmord des Ehemanns Mord vorwerfen lassen muss, lässt sich wahrscheinlich von nichts mehr beeindrucken - und so erschienen die Tagebücher trotz aller Proteste.

Dafür sollten wir ihr dankbar sein, denn Cobains Diarien geben einen tiefen Einblick in das Seelenleben des wohl einflussreichsten Musikers seiner Zeit, ohne ihn jedoch preiszugeben, denn eines sei vorweg gleich gesagt: Wer glaubt, in Kurt Cobains "Tagebüchern" eine letzte, endgültige Antwort auf die Frage, warum er sich vor zehn Jahren das Leben nahm, zu bekommen, der braucht das Buch gar nicht erst in die Hand zu nehmen, denn er wird keine Antwort finden.

Dutzende Notizbücher hat Cobain mit Aufzeichnungen, Notizen, Songtexten, Zeichnungen und Briefen gefüllt und zwanzig dieser Bücher sind in der vorliegenden Edition zusammengefasst. Die Lektüre lässt einen vor allem mit einer Erkenntnis zurück: Cobain war ein zutiefst zerrissener Mensch, der den totalen Erfolg als Musiker wollte, aber es gleichzeitig hasste, eine öffentliche Person zu sein. Dieser Widerspruch zog sich durch seine ganze Persönlichkeit: "Lies nicht in meinem Tagebuch, wenn ich weg bin. Ok, ich geh jetzt zur Arbeit. Wenn Du heut morgen aufwachst, lies bitte mein Tagebuch. Durchwühl meine Sachen und mach Dir ein Bild von mir", lautet der erste Eintrag.

Dass er aus dem "Rockzirkus" hätte aussteigen können, wenn er gewollt hätte, scheint ihm nie in den Sinn gekommen zu sein. Vielmehr hoffte und fürchtete er es gleichermaßen, eines Tages, wie Hunderte anderer Bands vor Nirvana, wieder in der Versenkung zu verschwinden. Diese Befürchtungen paarten sich stets mit Verbitterung angesichts des Bildes, das die Öffentlichkeit von ihm hatte, und mit dem Gefühl, die eigene Seele für den Erfolg verkauft zu haben, den Erfolg gleichzeitig aber dennoch verdient zu haben: "Ich komme mir irgendwie wie ein Knallkopf vor, hier über die Band und mich zu schreiben, als wäre ich eine amerikanische Pop-Rock-Ikone, ein Halbgott oder erklärtes Produkt einer griffig verpackten Industrierebellion. Aber ich habe so viele irrsinnig übertriebene gut unterrichtete Stories und Berichte von meinen Freunden gehört, und ich habe so viele lächerliche Freud-für-Arme-Einschätzungen meiner Persönlichkeit von Kindheit an bis heute anhand unserer Interviews gelesen, und dass ich ein notorisch fertiger Heroinsüchtiger und Alkoholiker bin, ein selbstzerstörerischer, dabei jedoch übersensibler, schwacher, zerbrechlicher, einnehmender, narkoleptischer, neurotischer kleiner Wichtigtuer, der sich irgendwann eine Überdosis verpassen, vom Dach springen und überschnappen und den Kopf wegschießen wird, oder alles drei zusammen, weil ICH MIT DEM ERFOLG NICHT KLARKOMME! OH, DER ERFOLG! DIE SCHULDGEFÜHLE! DIE SCHULDGEFÜHLE! OH, ICH FÜHL MICH JA SO SCHRECKLICH SCHULDIG! SCHULDIG, weil ich unsere wahren Weggenossen im Stich gelassen habe. Die Getreuen. Die, die von Anfang an auf uns gestanden haben. Die, die in zehn Jahren (wenn wir im Bewusstsein der Öffentlichkeit ungefähr so präsent wie Kajagoogoo sein dürften) immer noch in Freizeitparks pilgern werden, wo NIRVANA-Reunion-Gigs stattfinden, gesponsort von Inkontinenzwindeln, kahl, fett und immer noch am Rocken, samstags Puppentheater, Achterbahn & NIRVANA."

Selbstmord thematisiert Cobain wiederholt im Hinblick auf Möglichkeiten der Weiterentwicklung seines Lebens, dabei fürchtet er jedoch immer, dass er genauso gut einfach wieder in der Versenkung verschwinden könnte, um dann eines Tages durch Freizeitparks tingeln zu müssen. Cobain hat für sich jedes mögliche Szenario der Rock-Klischees durchgespielt, mehr jedoch nicht, nicht einmal gegen Ende seines Lebens. Als er einen Monat vor seinem Tod im April 1994 in einem Hotel in Rom versucht sich das Leben zu nehmen, ist ihm das in seinem Tagebuch keine Zeile wert - am Abend vor dem Selbstmordversuch sinniert er über die talentfreien Schauspieler Stallone und Van Damme. Auf der Europa-Tournee Nirvanas, die schließlich in Rom ein vorzeitiges Ende findet, setzt sich Cobain zum ersten Mal ernsthaft mit seiner Heroinsucht auseinander, die er zuvor in seinen Aufzeichnungen immer als Lappalie und notwenige Selbstmedikation abgetan hatte. Langsam schien er sich bewusst zu werden, dass er nicht ohne weiteres von der Droge loskommen würde: "Drogenkonsum ist Eskapismus, ob man das zugibt oder nicht. Ein Mensch mag Monate, Jahre darauf verwenden, Hilfe zu suchen. Aber die Zeit, die für den Versuch draufgeht, Hilfe zu finden, ist nichts im Vergleich zu den Jahren, die es dauert, völlig clean zu werden. [...] In jedem Fall hast du mindestens 5 bis 10 Jahre Kampf vor dir." Diese Einsicht kam ihm mit Sicherheit einige Jahre zu spät, und vielleicht hat Cobain am Ende einfach an das Bild, das die Medien von ihm entwarfen - das des schwachen, genialen Drogensüchtigen -, selbst geglaubt. Wiederholt legt er in seinen Aufzeichnungen dar, dass es für Rockstars im Grunde nur zwei Möglichkeiten gibt: ein Abgang mit einem großen Knall oder ein langsames Verschwinden in die Unbedeutsamkeit. Beides erschien ihm im Wechsel unerträglich und auch darin zeigt sich seine innere Zerrissenheit: einerseits hält er Nirvana für die großartigste Band, die Amerika seit langem hervorgebracht hat, andererseits fürchtet er, dass die Band nicht mehr als eine von der mächtigen Plattenfirma gut vermarktete Mini-Revolution ist: "Ich werde dank meines Kultstatus noch jahrelang meinen untalentierten, sehr ungenialen Arsch zu Markte tragen."

Cobains Verhältnis zu seinem Starstatus blieb immer zwiespältig, auch wenn er anfangs eine wilde Freude dabei empfand, mit seinen eigenen Idolen - Iggy Pop, Sonic Youth, The Melvins, um nur einige zu nennen - die Bühne teilen zu dürfen, und entschied sich letztendlich gegen die Möglichkeit, seinen "ungenialen Arsch" weiter zu vermarkten. Dabei vergaß er wohl auch, dass er sich aus dem Musikgeschäft hätte zurückziehen können - was ihm seine Frau vorwarf, als sie im April 1994 Teile seines Abschiedsbriefes öffentlich verlas. "It's better to burn out than to fade away", schrieb er, ganz im Stil eines Satzes, den er schon Jahre zuvor in sein Tagebuch niedergeschrieben hatte: "Ich hoffe, ich sterbe, bevor ich Pete Townshend werde." Zumindest diese Hoffnung hat sich für ihn erfüllt, so zynisch das klingen mag.

"Kurt Cobain - Tagebücher" ist ein sorgfältig gemachtes Buch, viele Aufzeichnungen wurden als Faksimile übernommen, und die deutschen Herausgeber und Übersetzer des Buches, Clara Drechsler und Harald Hellmann, haben ihre Übertragung lobenswerterweise daneben gestellt - und damit gleichzeitig die einzige Schwäche des Buches entlarvt: Teilweise sind die gefundenen Lösungen ungenau. So schreibt Cobain einmal "I've heard so many insanely exhaggerated [sic] stories or reports from my friends [...]", was Drechseler und Hellmann mit "Aber ich habe so viele irrsinnig übertriebene gut unterrichtete Stories und Berichte von meinen Freunden gehört, [...]." übersetzen. Bleibt die Frage, woher die beiden das "gut unterrichtete" nehmen, wenn es im Originaltext "so many insanely exhaggerated Stories" heißt, was man mit "so viele wahnsinnig übertriebene Stories" übersetzen sollte, nicht mehr, wobei es nicht einleuchtend ist, warum die "Stories" in der Übersetzung nicht zu "Geschichten" werden durften.

Titelbild

Kurt Cobain: Die Tagebücher.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002.
316 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3462031848

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Kurt Cobain: Tagebücher.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
320 Seiten, 10,90 EUR.
ISBN-10: 3596160162

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