Auch ein Nesthäkchen hat es nicht immer leicht

Véronique Olmi schickt Kind "Nummer sechs" auf die ewige Suche nach väterlicher Liebe

Von Stefanie SchwaratzkiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Schwaratzki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Du sollst nicht töten" ist ein Gebot, an das sich auch die Familie Delbast hält. Sie sind praktizierende Katholiken und energische Abtreibungsgegner. Der Vater ist fünfzig, die Mutter bereitet sich auf die Wechseljahre vor, da kündigt sich Fanny an, das Kind "Nummer sechs". Es ist nicht erwünscht, ein Nachkömmling, mit dem keiner gerechnet hat, "aus einem müden Eierstock erzeugt".

Auch fünfzig Jahre später macht Fanny sich keine Illusionen: "Eine Fehlgeburt muss erwünscht gewesen sein". Diesen Eindruck vermittelten ihr die sonst so untadeligen Eltern. So wuchs sie in einer Großfamilie auf, in der es für sie keinen Platz, keine Liebe mehr gab. Sie lernte, "daß man jeden geliebten Menschen hassen kann. Für Augenblicke. Aus Schmerz." Ihr ganzes Leben lang muss Fanny um Beachtung kämpfen. Vergebens. Wie auch die Suche nach der Liebe ihres Vaters aussichtslos bleiben muss, obwohl sie das einzige Kind ist, das sich aufopfernd um den mittlerweile hundertjährigen Witwer kümmert. Die einzige Möglichkeit, ihm nahe zu kommen, sieht sie in der Lektüre der Briefe, die er als junger Mann seinen Eltern aus dem ersten Weltkrieg geschickt hat. Aus dem Krieg, den er als Verlobte bezeichnete, der Fannys Eifersucht entflammen ließ. "Und sie wurde zur Obsession. Diese Verlobte." Doch auch so kann sie ihren Vater nicht greifen. Die Sehnsucht nach seiner Liebe muss sie ihr Leben lang ertragen.

Die Französin Véronique Olmi schreibt auch mit ihrem zweiten Roman weiter an ihrer Erfolgsgeschichte. Als eine der bekanntesten jungen Theaterautorinnen geriet sie vor zwei Jahren mit ihrem brisant-tragischen Roman "Meeresrand" (Kunstmann, 2002), der zur Zeit verfilmt wird, ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Positiv wurde die Geschichte aufgenommen, die von einer Mutter und zwei Kindern erzählt, die sich existenziell am Abgrund befinden. Die 41-Jährige scheint einen großen Hang zu haben, dramatische Familiengeschichten zu thematisieren. Denn auch "Nummer sechs" ist ein bestürzender, ein erschütternder Roman.

Gekonnt entführt uns die Autorin in eine andere Zeit, in eine andere Welt, in der andere Wertmaßstäbe gelten als heute. Dabei weckt sie nicht nur das Interesse der älteren Leser, die zur Altersklasse der Protagonistin gehören. Denn nicht nur der Erste Weltkrieg wird problematisiert, die damalige Einstellung zur Familie geschildert. Die eigentliche Thematik bleibt ewig aktuell. In jeder Generation gibt es nach Liebe suchende, von den Eltern zurückgewiesene Kinder. Kinder, die sich das ganze Leben lang nach väterlicher Zuneigung sehnen. "Seine Kindheit wird man nicht los."

Die Vater-Tochter-Problematik, Fannys aussichtslose Jagd nach Geborgenheit und Liebe, wird einfühlsam und überzeugend beschrieben. Der Leser leidet mit, begibt sich mit auf diese nie endende Suche.

Obwohl der Roman klar strukturiert ist und sich aufgrund der kurzen Sätze einfach lesen lässt, kann er keinesfalls als schnell zu lesende, leichte Kost bezeichnet werden. Das eigentliche Buch schreibt der Leser selbst, mithilfe der Bilder, die Véronique Olmi in seinem Kopf entstehen lässt. Die knappen Sätze symbolisieren die Kindersicht, aus der Fanny noch als Erwachsene ihre unglückliche Kindheit reflektiert. Der Leser wird überhäuft mit Schlagwörtern, Ereignissen und Emotionen, die unkommentiert im Raum stehen bleiben.

Es braucht seine Zeit und dann verstehen auch wir: "Den Lebensweg der Eltern kreuzt man nur. Man teilt einen Lebensabschnitt mit ihnen, man geht fort, und schließlich erinnert man sich und denkt an sie zurück."

Titelbild

Veronique Olmi: Nummer Sechs. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Sigrid Vagt.
Verlag Antje Kunstmann, München 2003.
100 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3888973384

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