Opfer des Systems

Ha Jins neuer Roman "Verrückt" führt auf den Platz des Himmlischen Friedens

Von Mareike DannullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mareike Dannull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alle waren überrascht, als Professor Yang im Frühjahr 1989 einen Schlaganfall erlitt." So lässt der chinesische Autor Ha Jin, der mit 29 Jahren in die USA einwanderte, seinen Protagonisten Jian seine sehr persönliche aber auch zugleich politische Geschichte beginnen. Jian ist Student der Klassischen Literatur an der Universität Shanning. Unter der Anleitung von Professor Yang, seinem zukünftigen Schwiegervater, bereitet er sich auf die Zulassung zur Promotion an der Universität Beijing vor.

Aus Dankbarkeit und Respekt übernahm er bereitwillig die Pflege seines kranken Professors - jeweils an den Nachmittagen im Krankenhaus von Beijing. Gefesselt von der eindrucksvollen Beschreibungsweise der Geschehnisse sitzt der Leser nach kürzester Zeit scheinbar selbst am Krankenbett. Er erlebt mit, wie er langsam den Verstand verliert, anfängt zu fantasieren und zu halluzinieren. Er schwärmt von Brustwarzen, die nach Karamellbonbons schmecken, er singt Kampflieder aus der Kulturrevolution und referiert die Lehrsätze von Mao Zedong. Immer wieder rezitiert er aus Dantes "Göttlicher Komödie", Passagen aus "Inferno" und "Paradiso". Er fleht zudem unsichtbare Peiniger um Gnade an, und seinen Schützling Jian bedrängt er immer, wieder seine akademischen Zukunftspläne aufzugeben.

Ha Jin erzeugt beim Leser einerseits eine Faszination, ja er weckt den Wunsch, den rätselhaften Äußerungen des Professors, die dieser im Delirium von sich gibt, einen Sinn geben zu können. Anderseits erzeugt er beklemmendes Mitleid sowohl mit dem Studenten, für den die Stunden am Krankenbett unerträglich werden, als auch für den verrückt gewordenen Professor, der feststellen muss, das er nicht einmal das Privileg hat, "sich die Luftröhre mit einer Gabel zu durchstoßen", um seinem bemitleidenswerten Leben ein Ende zu machen.

Kurz bevor die Geschichte droht, zu unüberschaubar zu werden, fügen sich durch die Puzzleteile viele kleine Nebenhandlungen zusammen. Denn obwohl anfangs die Geschichte um Professor Yang dominiert, bahnt sich unaufhörlich eine politische Tragödie an. Ha Jin verknüpft diese sehr privaten Schilderungen mit der politische Historie Chinas. Anfangs sind es nur die Erzählungen des Professors, der, als die Kulturrevolution ausbrach, als Dämonenmonster angeklagt wurde, weil er ausländische Gedichte übersetzte und die Ansicht vertrat, Goethe sei ein großer Dichter. Doch zunehmend gerät der Protagonist Jian selber mitten in ein Netz von Intrigen und für den westlichen Leser sind die bedrückenden Beschreibungen des akademischen Lebens im Kommunismus sowie die Allgegenwärtigkeit der Partei nur schwer vorstellbar. Dass dabei Fakten der Zeit um 1989 verarbeitet wurden, belastet zusätzlich.

Den grausamen Höhepunkt erreicht Ha Jin, als er seinen Protagonisten zum Platz des Himmlischen Friedens fahren lässt, um an den Studentendemonstrationen teilzunehmen. Dort muss er miterleben, wie Studenten kaltblütig von der Armee umgebracht werden - und andere sich trotz der vielen Getöteten nicht von ihren Protesten abbringen lassen.

Er selbst ist nicht nach Peking gereist, um für die Demokratie zu kämpfen, aber auf dem Rückweg verfolgt ihn "eine schreckliche Vision": "Ich sah China als alte Vettel, so heruntergekommen und geisteskrank, dass sie ihre eigenen Kinder fraß. Die Unersättliche hatte schon früher viele junge Leben vertilgt. Jetzt schlang sie wieder frisches Fleisch und Blut in sich hinein, und noch viele würden ihr künftig zum Opfer fallen." Auch der Protagonist von "Verrückt" soll zum Opfer des Systems werden, ein einst unpolitischer angehender Akademiker wird zum Konterrevolutionär erklärt, als einziger Ausweg bleibt ihm die Flucht.

Titelbild

Ha Jin: Verrückt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Hornfeck.
dtv Verlag, München 2004.
315 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3423243724

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