"Brauchen die Neger uns? Oder brauchen nicht eher wir sie?"
Das "Musil-Forum" hat den Verlag und das Konzept gewechselt
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLange hat es gedauert: Mit einjähriger Verspätung ist endlich wieder ein Doppelband des "Musil-Forums" erschienen, Band 27 für die Jahre 2001/2002. In einem neuen Verlag (de Gruyter), unter neuen Herausgebern (Matthias Luserke-Jaqui und Rosmarie Zeller, redaktionelle Mitarbeit: Nikola Roßbach) und in einem neuen Gewand (erfrischend orange). Sogar das Profil ist neu. Wie der Untertitel - "Studien zur Literatur der klassischen Moderne" - schon verrät, öffnet sich das "Musil-Forum" benachbarten Gegenständen und nimmt auch Studien über Joyce, Proust, Schnitzler oder Thomas Mann auf, geht es doch nun um die europäische Literatur zwischen 1880 und 1930. Ob das eine Bedingung des Verlages war, ohne deren Erfüllung die Zeitschrift nicht ins Programm gekommen wäre? Oder was spricht sonst gegen ein Periodikum, das sich ausschließlich mit Musil beschäftigt? Vor Sterilität muss einem doch gerade bei diesem Autor nicht bange sein, der wohl der universellste und anschlussfähigste von allen ist.
Das neue Konzept führt jedenfalls zu Merkwürdigkeiten. Seltsam mutet es an, wenn man im "Musil-Forum" einen kenntnisreichen Aufsatz von Erich Kleinschmidt über die Idee einer "experimentellen" bzw. "experimentierenden" Literatur liest, von der Vormoderne bis zu Döblin, Benn und den Dadaisten - aber kein Wort dazu, welche Bedeutung diese Vorstellung für den promovierten Experimentalpsychologen Musil hatte. Nicht anders bei dem erhellenden Aufsatz Stephan Dietrichs über "Die Domestizierung des Wilden": Viel erfährt der Leser über die Funktionalisierung des Wilden und Primitiven in der Vorkriegsavantgarde der 1910er Jahre (Iwan Goll: "Brauchen die Neger uns? Oder brauchen nicht eher wir sie?"), etwa bei den expressionistischen Autoren Robert Müller und Carl Einstein. Viel über den Massenerfolg eines popularisierten Primitivismus in der Unterhaltungsindustrie der zwanziger Jahre und die "Wandlung des primitivistischen Diskurses von einem offenen Textsystem avantgardistischer Prägung zu einer klischierten Form stereotyper Zuschreibungen". Wer aber Seitenblicke auf Musils Werke auch nur in Fußnoten erwartet, wird enttäuscht. Kein Wort darüber, wie sich die exotische alpine Bauernwelt in der Nachkriegs-Novelle "Grigia" in diesen Primitivismus-Diskurs einordnen ließe, keines über den domestizierten Wilden im "Mann ohne Eigenschaften", Arnheims Diener Soliman, keines über Musils Interesse an Lucien Lévy-Bruhls "Denken der Naturvölker".
Wie auch immer, lesenswert sind alle Beiträge des Bandes, die renovierte Zeitschrift ist erkennbar anspruchsvoller geworden. Originell ist etwa Hans Krahs Versuch, die Genese einer allbekannten Denkfigur durch das 20. Jahrhundert hindurch zu verfolgen, die Idee nämlich, man könne die Welt mit einem Druck auf einen Knopf zerstören. Um 1890 galten (Klingel-)Knöpfe noch als harmlose Vorrichtungen, um "elektrische Läutwerke" zu betätigen, hundert Jahre später waren sie eine Horrorvorstellung friedensbewegter Gemüter. Anregend ist auch Karin Tebbens Versuch, Arthur Schnitzlers "Die Toten schweigen" als ein Traumspiel der ihren Mann betrügenden Protagonistin zu lesen. Andere Beiträge beschäftigen sich mit den verschiedenen Fassungen von Frank Wedekinds "Lulu"-Stück (Ariane Martin) und dem österreichischen Romancier George Saiko (Gerhard Sauder).
Musil-Spezifisches gibt es auch. So will Michael Hofmann im "Mann ohne Eigenschaften" einen Vorläufer der Postmoderne-Konzeption Lyotards entdecken, und Heinz J. Drügh folgt eindrucksvoll dem Einfluss des neuen Mediums Film auf Musils Kurzprosatext "Das Fliegenpapier". Rosmarie Zeller macht mit Blick auf den "Törleß" und die "Drei Frauen" Einsichten von Michael Titzmann und Marianne Wünsch über die Bedeutung von Grenztilgungen und -überschreitungen in der Literatur der Frühen Moderne produktiv. Jürgen Daiber wagt sich in die Untiefen einer am Autor orientierten psychoanalytischen Literaturwissenschaft und rekonstruiert, wie sich bei Musil individuelle Neurosen, ihre (selbst-)analytische Erkenntnis, eine experimentelle Denk- und Schreibhaltung sowohl zu einer therapiebedürftigen Schreibhemmung als auch zu einer unendlichen und unvollendbaren Schreibbewegung verquickt haben sollen.
Freilich, was hier Ursache und was Wirkung sein soll, wird nicht immer klar. Beeindruckend transparent gemacht wird dagegen durch eine kenntnisreiche Studie von Walter Fanta die verzweigte Spur, die Ulrichs überspannte Freundin Clarisse im "Mann ohne Eigenschaften" und im zigtausend Seiten umfassenden Nachlass hinterlassen hat. Eine Bibliografie der Musil-Sekundärliteratur von 1994 bis 2001 sowie ein schmaler Rezensionsteil beschließen den Band. Hoffentlich dauert es bis zum nächsten nicht wieder so lange.
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