Die Angst des Leutnants am Katheter

John King untersucht Jüngers Kriegstagebuch des Ersten Weltkriegs

Von Manu SlutzkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manu Slutzky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"So haben wir mit 20 Mann über hundert Mann erfolgreich bekämpft [sic!], trotzdem wir Anweisung hatten, uns bei überlegener Annäherung zurückzuziehen. Ich muß sagen, ohne mich selbst loben zu wollen, daß ich das nur erreicht habe durch Überlegenheit über die Situation, eiserne Einwirkung auf die Leute und durch Vorangehen beim Ansprung auf den Feind. [...] In solchen Momenten Führer sein mit klarem Kopfe, heißt der Gottähnlichkeit nahe sein. Wenige sind auserlesen."

Für Ernst Jünger war der Erste Weltkrieg ein Ort der "Festigung des Selbst" und der Selbstverwirklichung, der "Bestätigung der Welt und des Wortes" im Heroismus, aber auch eine Zeit des Beschreibens und damit Bewältigens der eigenen Ängste und der beklemmenden und "beherrschenden Gegenwart" des Frontgeschehens. John King stellt seiner Dissertation "'Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?' Writing and Rewriting the First World War" eine Bewertung der Forschungsliteratur zu Ernst Jünger voran, in der er zeigen kann, dass 50 Jahre Jünger-Forschung auch als Spiegel der ideologischen Verwerfungen zu lesen sind, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts insgesamt charakterisiert haben: So folgte auf die existentialistischen und humanistischen Lesarten der 50er Jahre eine politische Radikalisierung der Jünger-Rezeption in den 60ern und 70ern bis hin zu den vulgärmarxistischen Thesen Gerda Liebchens (1977), die den Autor im Dienste "imperialistische[r] Herrschaftsinteressen" und "monopolkapitalistische[r] Produktionsverhältnisse" stehen sah. Die partiell polemische, gleichwohl wissenschaftlich-systematische und überdies ergiebige Auseinandersetzung hatte ihren Ursprung bei Karl Prümm (1974) genommen, dem King einerseits Scharfsichtigkeit, andererseits Kurzsichtigkeit bescheinigt, war durch Theweleits "Männerphantasien" (1977) kurzfristig suspendiert worden - wobei sich auch hier "eine Reihe nützlicher Einsichten" finden ließen - und war dann einer sachlichen, genauen, in der Regel werkbiographisch orientierten Forschung gefolgt, die ihren vorläufigen Höhepunkt in Hans-Harald Müllers autorintentionalem Ansatz in "Der Krieg und die Schriftsteller" (1986) gefunden hatte.

Die bei weitem folgenreichste Studie war Karl Heinz Bohrers Bielefelder Habilitationsschrift "Die Ästhetik des Schreckens" (im Untertitel "Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk") von 1978 gewesen, die den Autor erstmals im Kontext der Moderne verortete, deren Erkenntnisse King jedoch als defizitär klassifiziert, weil Bohrer "weder Jüngers Schuld gegenüber den klassisch modernen Praktiken der Erkenntnis noch die Beziehung zwischen Jüngers 'Ästhetizismus' und seinem soziokulturellen Kontext" berücksichtigt habe. Ähnlich detailliert und engagiert klopft Kling auf 25 Seiten die Forschungsliteratur nach Brauchbarem ab, mit dem Ergebnis, dass sich seine Dissertation etwas schleppend anlässt (auch der scheppernden Übersetzung wegen). Seine Strategie, Jünger und die eigene Fragestellung zu Jünger erst einmal einzukreisen, verfolgt King dann auch im dritten und vierten Kapitel, die unter anderem das Verhältnis der "Intellektuellen" (Georg Heym, Freud, Rilke, Franz Marc, Hugo Ball, Otto Dix, Johannes R. Becher und Thomas Mann) zum Krieg thematisieren und bei Jünger "imaginäre" (nämlich in die Fantasie) und "wirkliche" Fluchten (in die Fremdenlegion, in den Krieg) unterscheiden.

Alles im Grunde Präliminarien, Wiederholungen, Auswertung der Forschungslage, etwas willkürlich, etwas schülerhaft gewiss, aber nicht ohne Erträge. Erst im 5. Kapitel nimmt dann Kings Boot wirklich Fahrt auf: Von nun an geht es um Jüngers Kriegstagebuch, um die authentische Vorfassung seines Erstlings "In Stahlgewittern" (1920), um die primären Aufzeichnungen also, die Jünger an der Front gemacht und für die spätere Veröffentlichung wieder und wieder bearbeitet hat. 1995 erhielt King noch von Jünger selbst die Erlaubnis, den Marbacher Vorlass einzusehen, und Jüngers Witwe, das aus den späten Tagebüchern bekannte "Stierlein", gestattete ihm dann auch, aus dem Kriegstagebuch zu zitieren. King ist damit der erste Literaturwissenschaftler, der detailliert zeigen kann, dass das Kriegstagebuch nicht nur eine "Manuskriptvariante" des Jünger'schen Buches darstellt, sondern auch bislang unbekanntes "biographisches Material" bietet.

Am 24. Mai 1917, kurz nachdem Jünger vom kommandierenden Offizier seines Regiments, Oberst von Oppen, "eine Riesenzigarre" wegen einer kleinen Verfehlung bekommen hatte, notierte er in sein Tagebuch: "Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?" Bis dahin hatte sich bei dem abenteuerlustigen Ex-Abiturienten längst Ernüchterung eingestellt, war Jüngers "Traum heroischer Taten" ausgelöscht und dem Bewusstsein der "tödlichen Trostlosigkeit" der Front gewichen. Lediglich kleinere Patrouillen, die ins Niemands- oder Feindesland führten, gaben ihm das Gefühl "wirkliche[r] Kampferfahrung". Einmal begeisterte er sich über einen "tollkühnen Engländer", der kaltblütig und "von unseren Kugeln umzischt", wahre "Meisterschüsse" abgegeben habe.

Wie King herausarbeitet, zeigt das Kriegstagebuch auch, dass Jünger "keineswegs ein vorbildlicher Untergebener war". Wie auch seine Essays, vor allem "Annäherungen" (1970), zeigen, stand er mit Vorgesetzten ebenso auf Kriegsfuß wie mit der Befehlskette, der "konventionelle[n] Befehlsgewalt" und der Kleiderordnung. Denn oft hatten seine Vorgesetzten ebensowenig Einblick in die Gefechtslage wie der einfache Soldat oder der Stoßtruppführer, und dennoch schickten sie ihre Mannen ungerührt ins Feuer. Starre Ideologie und blinde Loyalität traten an die Stelle strategischen Augenmaßes und kalkulierbarer Einsätze. Gleichwohl zeigte Jünger Ehrgeiz, spekulierte auf Beförderung und auf das "schwarzweiße Band" des Eisernen Kreuzes.

Bei der Ästhetisierung der eigenen Kriegsmitschriften stützte er sich auf "literarische Texte und andere überlieferte kulturelle Zeugnisse als Bezugspunkte": das allegorische Motiv des Totentanzes oder ein "Stimmungsbild" à la Böcklin, damals der mit Abstand berühmteste symbolistische Maler in Deutschland, ersetzen oder situieren ihm die eigene Todeserfahrung im Fronteinsatz, ein Zitat aus Ariosts "Orlando furioso" verklärt die Angst des Leutnants am Katheter: "Ein großes Herz fühlt vor dem Tod kein Grauen / Wenn er auch kommt, wenn er nur rühmlich ist".

Im November 1916 ist Jünger bei einem Spähunternehmen in der Nähe von St. Pierre-Vaast zum dritten Mal verwundet worden - "Ein Geschoß hatte mir die rechte Wade durchbohrt und die linke gestreift" -, Mitte Dezember wird er mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet, im Februar 1917 erfolgt seine Ernennung zum Kompanieführer des Regiments. Er hat die Sommeschlacht mitgemacht, das Feldlazarett Villeret und das Kriegslazarett Valenciennes überlebt ("Tag für Tag verließ unter dumpfem Trommelwirbel ein Leichenzug das große Portal"), das blutige Handwerk der Ärzte und das segensreiche Wirken der Schwestern beobachtet und dem Sterben eines Kameraden aus nächster Nähe zugesehen: "Ich fühlte hier zum ersten Male, daß der Tod eine große Sache ist."

Nüchtern und mit kritischer Distanz begleitet King die Selbstfeier des ehrgeizigen Kriegers, lediglich vom Ausmaß erstaunt, in dem dieser "trotz seines heldischen Projektes und seiner patriotischen Erziehung seine Verzweiflung und seine Enttäuschung angesichts des Krieges" offenbart:

"Diese bekenntnishaften Textstellen wurden aus In Stahlgewittern hinausredigiert, da sie nicht mit dem Bild übereinstimmten, das Jünger von sich selbst zu zeichnen versuchte, bzw. mit der Erinnerung des Krieges, die er zu schaffen versuchte."

Eine unpassende Formulierung, war es doch eher so, dass das Bekenntnis der Verzweiflung und der Enttäuschung in die Veröffentlichungsform gar nicht erst aufgenommen worden war. Wie King nämlich ausführlich darstellt, wurden die "Ursprünge" des Kriegstagebuches "In Stahlgewittern" bei der Redaktion einer Rekonstruktion und Neuinterpretation des Krieges unterzogen, wurde authentisches Material ausgeschieden oder reinterpretiert sowie fiktives Material neu aufgenommen und teilweise umformuliert.

Titelbild

John King: "Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?". Writing and Rewriting the First World War.
Übersetzt aus dem Englischen von Till Kinzel.
Edition Antaios, Schnellroda 2003.
318 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3935063520

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