Speakers Corner, oder: Das unbestimmte Dritte

Giorgio Agambens Messianismus des Rechts

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Giorgio Agamben gilt gemeinhin als dunkler Denker. Das ist, bei aller Sympathie, nicht einfach von der Hand zu weisen. Dunkel ist er vor allem aufgrund der messianischen Perspektive seines Denkens, aus der sich sein politischer Diskurs über Körper, Gesetz und Politik immer wieder eröffnet. Genau genommen ist diese messianische Perspektive allerdings nicht dunkel, sondern gleißend-hell. Der Effekt ist jedoch der nämliche: die Konturen verschwimmen. Umgekehrt jedoch sind oftmals alle Argumente, die sich zu diesem Licht der Erlösung in hinreichender Distanz befinden, deutlich und nachvollziehbar.

Diese Struktur der Verständlichkeit gilt vor allem für seine aktuelle Neuerscheinung, "Ausnahmezustand". Über weite Strecken ist Agambens Buch darin mit einer kritischen Rekonstruktion der Geschichte des Ausnahmezustands beschäftigt, wie er "auf der Grenze zwischen Recht und Politik" angesiedelt ist. Vorderhand scheint es, als würde Agamben im Zeichen eines aufrichtigen Liberalismus diese Grenze verteidigen. Um die Möglichkeit des Ausnahmezustands und um das Paradox einer Rechtsstaatlichkeit, die sich selbst aussetzt, um den Rechtsstaat zu verteidigen, geht es Agamben zweifellos auch. Eine "geschützte Demokratie", die den Notstand ausruft, so betont Agamben, die ist keine mehr.

Wenn Agamben allerdings der Grenze von Recht und Politik nachgeht, dann kommt er dabei zu einer rechtstheoretischen Position, wie sie unter anderem auch Carl Schmitt in seiner Schrift über "Die Diktatur", Walter Benjamin in seiner "Kritik der Gewalt" oder Toni Negri in seiner Abhandlung über "Il potere constituente" (Die konstituierende Macht) entwickelt hat. Die konstituierende Macht wird in ihrem Sinn als die produktive Bedingung der konstituierten gedacht, die in jener auch nicht restlos aufzuheben ist. Recht ist, anders, und in Form eines Gemeinplatzes gesagt, politisch erzeugt. Damit ist allerdings auch die Frage nach dem Verhältnis von Genesis und Geltung aufgeworfen: Worin besteht die Legitimität der konstituierten Gewalt und der Rechtsordnung, wenn doch jene in der Kontingenz historischer Gewalt ihren Ursprung hat? Restlos lässt sich Gewalt nämlich nicht in Recht aufheben. So ist der Ausnahmezustand etwa ein Zustand, in dem die Norm zwar gilt, aber nicht angewandt wird. Die konstituierende Macht unterläuft das Gesetz, schaltet es aber nicht einfach aus.

Eben in dieser kritischen Akzentuierung stellt sich Agamben auch gegen die liberalistische Utopie eines formaljuristischen Universalismus. Agamben gibt sich insofern nicht einfach mit der "guten" liberalistischen Verteidigung der guten Rechtsordnung zufrieden. Deswegen ist ihm auch die Antithese von Demokratie und Diktatur nicht recht plausibel. Die Möglichkeit des Ausnahmezustands lässt der Demokratie die Diktatur als ureigene Möglichkeit angehören. Das aber erzeugt, so Agamben, eine "Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus". Guantanamo Bay ist für diese totalitäre Latenz des liberalen Rechtsstaats emblematisch geworden. Macht ohne Recht, die Selbstaufhebung des Rechts durch die Macht, die es erst konstituiert und zur Anwendung bringt, wird an Guantanamo Bay wie an keinem zweiten zeitgenössischen Beispiel plausibel.

Diese rechtstheoretische Akzentuierung der politischen Grenze des Rechts hat einige historiographische Konsequenzen. Darin liegt eine der besonderen Stärken von Agambens Buch. Agamben weiß die totalitäre und diktatorische Latenz der Notstandsgesetzgebung in der (hinsichtlich ihrer demokratischen Potenziale noch einigermaßen verunsicherten) Bundesrepublik des Jahres 1968 zu benennen. Und weil er der Antithese von Demokratie und Diktatur nicht so recht traut, tritt in seiner Lesart der Geschichte auch die faktische Präsidialdiktatur Hindenburgs, des "demokratisch gewählten" Präsidenten der Weimarer Republik, hervor. Er kann, auch das mag einige Demokraten verstören, zudem darauf hinweisen, dass sowohl Mussolini als auch Hitler demokratisch rechtmäßig an die Macht gekommen sind ("Mussolini war der rechtmäßig von König eingesetzte Regierungschef, wie Hitler der vom Reichspräsidenten ernannte Reichskanzler war.") Beide potenzierten ihre Macht nicht jenseits, sondern neben der Verfassung, in einer Unbestimmtheitszone, die auch die Verfassung nicht zu vermeiden vermag: "Was sowohl das faschistische wie das Nazi-Regime kennzeichnet, ist bekanntlich, dass die geltenden Verfassungen (der Statuto Albertino bzw. die Weimarer Verfassung) in Kraft blieben und ihnen nach einem Paradigma, das zugespitzt 'Doppelstaat' genannt worden ist, eine rechtlich oft nicht formalisierte zweite Struktur zur Seite gestellt wurde, was möglich war aufgrund des Ausnahmezustands." Zum Durchbruch bringt sie insofern gerade den "Nullpunkt" des Gesetzes, der jenes ermöglicht und begründet, in ihm aber als eine solche Möglichkeit auch enthalten bleibt.

So weit, so gut. Der Liberalismus ist, Agamben zufolge, nicht so immun gegen das, was er Diktatur nennt, wie er glaubt. Dem mag man folgen oder nicht. Allerdings enthält Agambens politische Position auch größere Risiken. Wollte man sie, wie mehr als einmal geschehen, als eine ontologische Position interpretieren, die die Wahrheit des Seins gegen seine (abstrakten) Repräsentationen auszuspielen versucht, historisch-kontingente Aktualisierungen vor dem Hintergrund einer ontologischen Potenz kritisiert, dann würde Agambens Position einigermaßen gruselig erscheinen. Auf der Ebene des "Homo Sacer" erschien Agambens Position manchen als eine wertkonservative Rettung des "heiligen Lebens" (so Lorenz Jäger in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung") vor seiner biopolitischen Zurüstung. Auf der Ebene der Rechtstheorie würde die analoge Denkfigur aber nichts anderes bedeuten als die Heiligung der (konstituierenden, politischen) Gewalt gegenüber ihrer (abstrakten) Repräsentation im Recht. Liberalismuskritik hin und her: Das ist politisch wahrlich nicht zu empfehlen.

Es geht Agamben auch nicht darum. Was ihn davor bewahrt, klingt dagegen recht friedlich, um nicht zu sagen allzu fromm. Mit Benjamins Kritik der Gewalt verweist Agamben nämlich auf eine dritte Ebene der Gewalt, die Walter Benjamin (messianisch verklärt) in der militanten Praxis der Arbeiterbewegung und dann insbesondere in der Möglichkeit des Generalstreiks erkannte. Benjamin konnte sie als geschichtsphilosophisch reale Utopie an den Horizont malen. Er verwies auf eine "ent-setzende" Gewalt, die "außerhalb" und "jenseits" des Rechts steht.

Diese "reine", "mystische", "revolutionäre" Gewalt soll nun auch Agamben aus dem historischen Zusammenspiel von Demokratie und Diktatur, konstituierender und konstituierter Gewalt hinaushelfen. Er möchte, als guter messianischer Denker, hinaus aus dem zynischen Spiel von Politik und Recht, das er mit aller Nüchternheit gekennzeichnet hatte.

"Die Maschine anhalten", das ist die zentrale Metapher, die Agamben zur Kennzeichnung seiner theoriepolitischen Intention verwendet. In diesem Jenseits der Maschine soll die Beziehung von Gewalt und Recht überwunden sein. Dort soll ein reines Recht sichtbar werden (ein kontradiktorisches Recht außerhalb des Rechts), reines Mittel ohne Zweck, das nicht mehr (so wäre vielleicht zu deuten) der Aufrechterhaltung einer bestimmten, partikularen Ordnung dient.

Das klingt schön, sagt aber auch nicht viel, und zwar selbst dann nicht, wenn man sich einigermaßen zu rekonstruieren in der Lage sieht, was Agamben als eine solche Maschine aus Recht und Gewalt bezeichnet. Weil jener "Aus"-Knopf der "mystischen" Gewalt nämlich jenseits aller realen politischen Auseinandersetzungen zu stehen scheint (welche messianische Möglichkeit steht Agamben in der gegenwärtigen politischen Praxis, nach dem Verstummen der historischen Befreiungsbewegungen, vor Augen?) schützt er nur schlecht vor rechtskonservativen (Fehl-)Deutungen und autoritären Selbstermächtigungen vermeintlich messianischer, politischer Subjektivität.

In einem nächsten Buch sollte Agamben auch einmal über tatsächliche Perspektiven und Frontstellungen gegenwärtiger Politik sprechen. Andernfalls müsste man ihm wohl eines Tages einen Platz in "Speakers Corner" reservieren, wo er dann weiterhin ungestört und unverstanden von Apokalypse und messianischer Rettung erzählen kann.

Titelbild

Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer II. Bd. 1.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
113 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3518123661

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