Der Tscheche Kafka
Zu Marek Nekulas Studie über Franz Kafkas Sprachen
Von Malte Kleinwort
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Frage nach der Identität des - tschechischen? österreich-ungarischen? jüdischen? Prager? - Autors Franz Kafka lässt sich kaum einfach, geschweige denn eindeutig beantworten. Es wird daher in der Forschung des Öfteren die Formulierung bemüht, dass Franz Kafka zwischen den Stühlen seinen Ort hatte. Die Stühle oder Identitäten, auf die man sich dabei bezieht, haben zumeist einen sprachlichen oder religiösen, in letzter Zeit vermehrt auch einen explizit kulturellen Hintergrund.
Die vorliegende Studie von Marek Nekula begnügt sich bei der Beantwortung der Frage nach der sprachlichen Identität Kafkas nicht mit der lapidaren Einschätzung, dass Kafka natürlich auch des Tschechischen mächtig war, sondern hakt dort nach, wo andere Studien bereits zum nächsten Thema übergehen. Mit einer beeindruckenden Gründlichkeit und Ausdauer versucht Nekula, dem Verhältnis Kafkas zu den ihn umgebenden und prägenden Idiomen auf den Grund zu gehen. Besonders das von der Forschung eher stiefmütterlich behandelte Verhältnis zum Tschechischen steht dabei im Zentrum der Überlegungen des Leiters des Bohemicums an der Universität Regensburg.
Das ausführliche und mit diversen Unterpunkten gespickte Inhaltsverzeichnis könnte den einen oder anderen Leser abschrecken - sollte es aber nicht. Die sich darin äußernde Genauigkeit ist die unzweifelhafte Stärke des Buches, und die Übersicht ermöglicht es, Passagen, die sich zu weit vom eigenen Erkenntnisinteresse entfernen, zu überspringen und andere, die dem eigenen Interesse näher liegen, wiederzufinden. Es sollte der Studie nicht zum Nachteil ausgelegt werden, dass es linguistische Überlegungen mit kultur- und literaturwissenschaftlichen verbindet.
Beeindruckend ist die Sicherheit, mit der von schriftlichen Zeugnissen auf sprachliche Fähigkeiten und dialektale Einflüsse geschlossen wird. Mit der gleichen Sicherheit und Kompetenz schätzt Nekula auch andere Realien ein - seien es die in Kafkas Schule verwandten Lehrbücher für den Tschechisch-Unterricht oder die Umstände der 1917/18 stattfindenden Auseinandersetzung um einen neu zu wählenden Obmann der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, bei der Kafka die längste Zeit seiner Berufstätigkeit bis hin zu seiner Frühpensionierung beschäftigt war. Im Zeichen des Krieges wurde die Sprachzugehörigkeit des neuen Obmanns zu einem Politikum. Erst nach mehreren Monaten wird der Streit im Frühjahr 1918 durch Wahl eines gemischten Beirates beigelegt, der den Leser der Studie in einer nicht ganz zulässigen Übertragung dazu verführen könnte, auch bei Kafka einen mehrsprachigen Beirat als dessen Schreiben prägendes Element anzunehmen.
Was angesichts des Titels vermisst wird, ist neben der ausführlichen Behandlung der Sprachen Deutsch und Tschechisch auch eine genauere Untersuchung der Kompetenzen Kafkas in anderen Sprachen, wie dem Französischen, Hebräischen, Englischen und Italienischen. Hier belässt es die Studie bei einigen wenigen Bemerkungen. Gerade Kafkas Beschäftigung mit dem Hebräischen, die sich in einigen seiner erhaltenen Hefte niedergeschlagen hat, harrt noch einer eingehenden Untersuchung. Der wichtigste Grund dafür ist sicherlich, dass Kafkas Hebräisch-Studien - sprich vor allem seine Vokabellisten - in der Bodleian Library, Oxford, noch darauf warten, durch eines der beiden aktuellen Editionsprojekte einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert zu werden, was indes bei beiden Projekten aus dem S. Fischer Verlag und dem Stroemfeld/Roter Stern Verlag in Planung ist.
Wer bisher bei der Frage nach Kafkas Sprachkompetenz oder allgemeiner seinem Verhältnis zu den ihn umgebenden Sprachen zum Binder griff, dem von Hartmut Binder herausgegebenen "Kafka-Handbuch" (Band 1, 1979), dem sollte hiermit die Anregung gegeben werden, ab jetzt auch mal zum Nekula zu greifen.