Falsche Erwartungen

Die "Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg" einer jungen Frau aus Metz taugen nur bedingt als zeithistorisches Dokument

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit den vorliegenden "Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg" will auch der Böhlau Verlag von der aktuellen Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg im 90. Jahr seines Ausbruchs profitieren. Ein durchaus ehrenwertes Ansinnen, bliebe da nicht im konkreten Falle ein Gefühl der Missstimmung. Denn in diesen Tagebuchaufzeichnungen, die den Zeitraum von März 1915 bis Februar 1916 umfassen, spielt der Erste Weltkrieg nur eine marginale Rolle. Das ist auch nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, wer das Tagebuch führte - ein junges, gerade 18 Jahre alt gewordenes Mädchen aus gutem Bürgerhaus. Ihr Name ist Hertha Strauch und in ihren Jungmädchenaufzeichnungen deutet noch nichts auf die spätere engagierte Pazifistin und Schriftstellerin Adrienne Thomas hin. Im kurzen Vorwort sowie im erläuternden Nachwort wird dieser Sachverhalt zwar aufgeklärt, doch die Veröffentlichung der Aufzeichnungen unter dem Namen der Schriftstellerin weckt missverständliche Erwartungen.

Hertha Strauch wurde 1897 im elsass-lothringischen St. Avold/Moselle geboren. 1915, zu Beginn ihrer Tagebuchaufzeichnungen, lebte sie mit ihren Eltern und einer zwei Jahre älteren Schwester in Metz. Hier besuchte sie das Mädchenlyzeum. Die jüdische Kaufmannsfamilie war wohlhabend und gehörte in Metz zum angesehenen Bürgertum. Zu den Selbstverständlichkeiten dieses bürgerlichen Wohlstandslebens, so erfahren wir aus den Aufzeichnungen, gehörten auch ein Jahr nach Kriegsbeginn noch Gesangsunterricht und regelmäßige Theaterbesuche. Der Krieg kam nur sporadisch in die nur wenige Kilometer hinter der Front gelegene Stadt, die unter der Deutschen Herrschaft seit 1871 zur befestigten Garnisonsstadt ausgebaut worden war. Im Tagebuch werden vereinzelte Fliegerangriffe vermerkt, doch ist die ängstliche Verwunderung über diese noch ungewohnte Art des Krieges größer als die tatsächlichen Folgen. Intensivere Kriegseindrücke ergaben sich für die junge Frau am Metzer Hauptbahnhof. Dorthin hatte sich die 17-Jährige gleich nach Ausbruch des Krieges freiwillig zum Dienst als Rote-Kreuz-Schwester verpflichtet. Hier nun kam sie mit dem Krieg und seinen Folgen direkt in Berührung. Sie erlebte sowohl die Transportzüge mit ausrückenden Soldaten als auch die eintreffenden Lazarettzüge. Was sie sieht, schildert sie zuweilen eindringlich, so etwa am 1. Mai 1915: "Der Lazarettzug war ein improvisierter Personenzug, jedoch leidlich gut eingerichtet. In dem 1., d. h. also im letzten Waggon lagen lauter Lungenkranke, etwa 6. Alles war deshalb hermetisch verschlossen. Eine entsetzliche Luft schlug uns entgegen. Eine schwüle, dicke Atmosphäre mit Schweiß, Karbol und sonstigen undefinierbaren Gerüchen ausgefüllt. Entsetzlich. Trotzdem versorgten wir einen jeden mit allem nötigem u. nahmen uns Zeit für jeden einzelnen dieser Unglücklichen. [...] Nachdem wir den Wagen versorgt hatten, ging der Sanitäter in den nächsten mit uns. Hier war alles auf und trotzdem eine Luft - ich glaubte es nicht aushalten zu können. Es roch nach Blut, Karbol, Schweiß, nach faulem Fleisch, nach Stuhl - einfach entsetzlich. [...] Die Ursache des furchtbaren Geruches stellte sich auch bald heraus: Sämtliche Wageninsassen hatten Bauchschuß." Angesichts des Elends der vielen Verwundeten und der sterbenden Soldaten regt sich bei der jungen Frau Empörung, doch bleibt sie ziellos und letztlich hilflos: "Die armen, armen Kerls!", notiert sie Ende Mai 1915, "Wozu müssen sie sich abschlachten lassen? Richtig abschlachten. Ach - nicht dran denken - nur nicht dran denken!"

Dann doch lieber wieder erleichtert in das kollektive "Hurra" einstimmen, wenn es Siege zu feiern gibt, oder der Kronprinz der Stadt einen Besuch abstattet. Aufgeregt notiert sie beispielsweise Hindenburgs Siege an der Ostfront und hält akribisch die Zahl der gemachten Gefangenen fest. Dem Kronprinz schreit sie mit einer Freundin, so berichtet sie im März 1915, ein lautes "Hurra! Hurra!" zu, woraufhin der sich umdrehte: er "legte die Hand an die Mütze und lachte uns zu. Wie er lachte! Wie die Sonne selbst." Backfischbewertungen. Aus Anlass der Versenkung des Passagierdampfers "Lusitania" durch deutsche U-Boote, bei dem 1.200 Zivilisten zu Tode kamen, schreibt sie am 31. Mai 1915 in ihr Tagebuch: "Ich weiss nicht, woran das liegt, das sie uns alle so hassen. [...] Und was die Lusitania betrifft, so ist es doch unser klarstes Recht. Barbarisch und gewissenlos war es von den Engländern. Wenn ein Passagierdampfer Waffentransporte vermittelt, so haben wir das Recht, ihn zu torpedieren ..." Ein anderes Beispiel für die ungerechte Beurteilung der deutschen Sache, so führt sie ganz im Einklang mit der deutschen Propaganda weiter aus, seien die Ereignisse im belgischen Leuven. Die brutalen Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung durch deutsche Soldaten verteidigt sie eben in diesem Sinne: "Da schiessen sie aus Fenstern, Kirchen etc. und wenn sich die Deutschen wehren - schreit man Barbar! Ich möchte aus der Haut fahren vor Zorn." Hier, wie auch an den Stellen im Tagebuch, wo sie den Tod ehemaliger Schulkameraden und Freunde vermerkt, spürt man einen angestrengten Ernst, die Tragik und Schicksalsmächtigkeit des Krieges angemessen und pflichtbewusst abzuhandeln. Eine eigene Haltung zu den Geschehnissen entwickelt sie nicht. Kann man es ihr verübeln? Sie ist jung und führt ihr Tagebuch nicht, um politische Reflexionen festzuhalten. Was sie bewegt, sind Ahnungen von Verliebtheit, private Verwirrungen und Freuden - zuweilen auch ahnungsvolle Angst vor dem, was dieser Krieg noch bringen kann. Freilich wird hier ein Erfahrungsschatz angelegt, den sie später als Schriftstellerin und Pazifistin nutzen wird. Und dass sie das schriftstellerisch wird bewältigen können, das beweisen die mit Lust und Talent ausgeführten ausgiebigen Dialogpassagen in den Tagebuchaufzeichnungen. Übungen einer werdenden Autorin. Aber als zeithistorisches Dokument sind diese Jungmädchenaufzeichnungen nur wenig ergiebig.

1930 veröffentlichte Hertha Strauch als Adrienne Thomas den erfolgreichen Antikriegsroman "Die Katrin wird Soldat", in dem sie ihre Erfahrungen verarbeiten konnte. 1932 verließ Adrienne Thomas Deutschland und gelangte schließlich 1941 ins amerikanische Exil. Nach 1947 lebte Adrienne Thomas in Österreich. Sie starb 1980 in Wien.

Titelbild

Adrienne Thomas: Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Tagebuch.
Herausgegeben von Günter Scholdt.
Böhlau Verlag, Köln 2004.
226 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3412077046

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