Zum Bundespräsidenten nicht geeignet

Martin Walsers Essayband "Die Verwaltung des Nichts"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel von Walsers neuem Essayband ist im eigentlichen Wortsinn nichts sagend. Die Bedeutung erschließt sich erst allmählich während der Lektüre. Den Schwerpunkt bilden Sprachreflexionen, die in vielfachen Variationen um die Feststellung kreisen, dass Sprache, sofern sie nicht der Information dient, etwas zum Ausdruck bringt, was nicht existiert, also letztlich das Nichts. Dem Nicht-Existenten Sprache zu verleihen, nennt Walser die Verwaltung des Nichts. Es handelt sich um einen schöpferischen und meist positiv zu bewertenden Akt, mitunter jedoch erlaubt der Kontext, in den die Wendung eingebettet ist, auch negative Konnotationen. Auf Stringenz und Widerspruchsfreiheit wird wenig geachtet, und wahrscheinlich sind sie gar nicht beabsichtigt, würden sie doch die essayistische Lebendigkeit lähmen, ganz abgesehen davon, dass die insgesamt siebzehn Aufsätze nicht auf einer einheitlichen Konzeption beruhen, sondern aus unterschiedlichen Anlässen entstanden und an verschiedenen Publikationsorten von 2000 bis 2004 erschienen sind. Kunst- und Literaturkritik mischt sich mit Politischem, auch Autobiografisches fehlt nicht.

Um einen ungefähren Eindruck zu vermitteln, hier in Kürze der Gedankengang des Essays "Vokabular und Sprache": Er beginnt mit dem Wort "Gott", das in der "Verwaltung des Nichts" die "glorioseste Frequenz" besetze und eine Art Leerstelle bilde. Entweder bleibe Gott der verborgene Bezugspunkt ausdrucksstarker, aber sich der Festlegung entziehender Formulierungen, dann herrsche die Faszination religiöser Sprache, oder die Leerstelle werde mit begrifflichem Inhalt gefüllt, dann entstehe theologisches Vokabular. Dem Gegensatz Religion - Theologie bzw. Sprache - Vokabular lassen sich Disjunktionen zuordnen: Bewegung durch Negation - positive Festlegung, existenzielle Erfahrung - vermitteltes Wissen, Irrationalität - Rationalität, Sache an sich - ihre Bewertung, persönlicher Ausdruck - adressierte Wörter, Offenheit - Rechthaberei. Wo Walsers Sympathien sind, ist klar. Beispiele religiösen Sprechens findet er bei Kierkegaard und dem jungen Karl Barth (dagegen produziere der alte Barth theologisches Vokabular). Nichts jedoch übertreffe die religiöse Sprache Hölderlins; von den zitierten Versen sei der Anfang eines späten Entwurfs wiederholt: "Was ist Gott? Unbekannt, dennoch / Voll Eigenschaften ist das Angesicht / Des Himmels von ihm." Nicht zuletzt erhellt das Beispiel Hölderlins die Nähe von religiöser und dichterischer Sprache.

Nach diesem emphatischen Höhepunkt folgt über den Begriff "Religiosität" ein überraschender Schwenk zum "linksliberalen" deutschen Feuilleton, das pantheistisch anmutende Sätze Walsers böswillig als neuheidnisch und germanisch angeprangert habe. Dahinter lauere das Wort "Antisemitismus", das die Anwälte der herrschenden Meinung hemmungslos missbrauchten, um "sich ihres Gutmenschentums innig bewußt" zu werden. Kurz: In der tonangebenden Presse werde Vokabular gepflegt, nicht Sprache. Weitere Beispiele, die den Unterschied von Sprache und Vokabular illustrieren sollen, schließen sich an, wobei polemisches Grollen vernehmlich bleibt, z. B. wird das Verhältnis von Marx zum Marxismus als Verhältnis von Ursprungssprache zu ideologischem Vokabular begriffen. Den Schlusspunkt setzt ein betont persönlich formulierter poetologischer Aphorismus: "Die Vokabulare sind beschäftigt mit Weltverbesserung. Die mit Sprache zu tun haben - und jetzt kann ich nur noch in der Einzahl sprechen -, wenn ich also mit Sprache zu tun habe, bin ich beschäftigt mit der Verwaltung des Nichts. Meine Arbeit: Etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist." Darf man an den Schluss von Schillers "Wallenstein"-Prolog denken: "Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst"?

Kaum ein Aufsatz ist frei von polemischen Zutaten. Das mag bedauern, wer in Polemik etwas Verwerfliches sieht; wer sie aber für eine reizvolle Kunstform hält, darf das Buch mit Vergnügen und Anerkennung lesen, selbst wenn er in der Sache hin und wieder Vorbehalte hat. Walser ist nicht nur ein begnadeter Polemiker (obwohl er selbst dieser Einschätzung nicht unbedingt zustimmen dürfte - polemisch sind die anderen), er liefert darüber hinaus Ansätze zu einer Psychologie der Polemik: In fast jedem Menschen spiele sich ein Sprachgeschehen ab, das nicht hörbar werde, sondern sich durch "Platonische Stimmbänder" (so der Titel eines Aufsatzes) artikuliere, ein Selbstgespräch, in dem man sich Dinge sage, die in der Gesellschaft unsäglich seien, ein Ventil zur Vermeidung psychischen Überdrucks. Dieses Selbstgespräch sei wichtiger als das Gespräch. "Einerseits gibt es kaum Schöneres als die, ich muß es so sagen, die wilde Vehemenz des Selbstgesprächs, andererseits merkt man, daß das Selbstgespräch eine blödsinnige Hoffnung hat, eines Tages herauszukommen, Gespräch zu werden. Wenn es diese Hoffnung gar nicht mehr hat, gerät es, vorsichtig gesagt, in Gefahr. Ich glaube nicht mehr, daß die platonischen Stimmbänder je Laut geben dürfen, aber ich höre, was sie mir aufdrängen, immer ab und versuche, etwas von dem mir Aufgedrängten in einer bis zur Mitteilbarkeit verharmlosten Art anzudeuten." Hier ist natürlich von mehr die Rede als nur von Polemik, aber gerade auch diese erhält ihren Impetus dadurch, dass etwas zum Ausdruck drängt, was von den Normen der Sagbarkeit unterdrückt wird. Der Kontext lässt keinen Zweifel, dass bei den Normen an die political correctness zu denken ist: "Wer etwa im Selbstgespräch das Gegenteil dessen erfährt, was in der "Zeit" auf der ersten Seite steht, der muß diese "Zeit"-Seite durch und durch lesen, sonst verwildert er noch vollends." Aber: "Wer im Selbstgespräch das sagt, was er auch draußen im gesellschaftlich gegebenen Raum sagt, der kann sich als integriert beziehungsweise als gerettet vorkommen. Der kann Bundespräsident werden." Gut, dass Walser diese "Bundespräsidentenreife" nicht hat; das ermöglicht ihm, sich von herrschenden Meinungen zu distanzieren, die ihm schon deswegen suspekt sein müssen, weil sie herrschen und mit ihrer Hilfe Macht ausgeübt wird. Seinem Nonkonformismus ist es mehrfach gelungen, die "Diskursfürsten" zu provozieren und unbequeme Debatten zu erzwingen.

Die Essaysammlung erschöpft sich nicht darin, die Streitbarkeit ihres Autors unter Beweis zu stellen. Walser weiß auch anzuerkennen, zu loben, ja zu preisen. Anerkennung findet Rudolf Borchardt, dessen Briefwechsel mit Rudolf Alexander Schröder ausführlich vorgestellt wird. Walser scheint Verwandtes zwischen sich und Borchardt zu entdecken: "Zuerst war er ein Sprachmensch. Er konnte polemisch zu- und zurückschlagen, seine Erfahrung: 'Indignatio facit litteras.' Oder: 'Nur wer die Rachsucht kennt, weiß, was ich leide.' Aber alle seine Sprachgebärden und Sprachtaten gehorchen der Notwendigkeit, einen Mangel, eine Entgängnis auszugleichen." Nebenbei: "Entgängnis" ist ein bemerkenswerter Neologismus; oder ist das Wort Borchardt zu verdanken? Hohes Lob wird den Frauenstimmen in den Opern "Ariadne auf Naxos" und "Die ägyptische Helena" von Richard Strauss zuteil. Sie verklärten die weibliche Untreue, drückten etwas so schön aus, wie es nicht ist. "Der schöngemachte Schmerz, das ist Musik." Ihr gebühre bei der Verwaltung des Nichts der höchste Rang. Gepriesen wird der heimatliche Bodensee, das Schwimmen in ihm, das "Zärtlichkeitsangebot" seiner Landschaft. Zu seinem Preis wird sogar die Prosa verlassen, und der Autor spricht in Versen. - Auch die "Klage" um Siegfried Unseld ist, wie es das Genre will, ein Lob des gestorbenen Freundes; Walser will ihn "verklären". Allerdings geht die Verklärung über in Selbstverteidigung, die Unseld zum Zeugen aufruft: Dieser habe der Paulskirchenrede "ganz und gar" zugestimmt und im "Tod eines Kritikers" keine Verspottung Reich-Ranickis gesehen. "Mit seiner Leseerfahrung versehen, wäre das Buch nicht Objekt einer solchen Meinungsmache geworden."

Die Vielfalt des Inhalts macht es schwer, den Band als etwas in sich Abgerundetes zu betrachten. Der Aspekt "Sprache" ist zwar fruchtbar, aber zu allgemein und nicht gleichmäßig gegenwärtig. Der Themenreichtum jedoch verbürgt Abwechslung und verhindert Eintönigkeit. Vielleicht kann man auch den Brüchen innerhalb einiger Aufsätze Reiz abgewinnen. Die Lässigkeit, mit der darauf verzichtet wird, die Fugen zwischen den Bausteinen penibel zu verputzen, zeugt von der Souveränität eines Autors, der auf die Kraft seiner zuweilen recht eigenwilligen Assoziationen vertraut, weil er in jedem Fall Interessantes zu sagen hat. Das mutet an wie Altersstil. Einen solchen billigt man Goethe zu, warum nicht auch Walser?

Titelbild

Martin Walser: Die Verwaltung des Nichts. Aufsätze.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
284 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3498073540

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch