Das eingebildete Ich

Wilhelm Voßkamp liest Bildungsromane subjekttheoretisch

Von Ralf SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Bildungsroman scheint alles gesagt, so sollte man meinen. Ein Übermaß an ideologischem Ballast steht bei diesem als urdeutsch verschrienen Gattungsbegriff seiner zunehmend fragwürdig gewordenen heuristischen Qualität gegenüber. Kaum eine Gattung des Romans ist derart geläufig und dabei so schwer aus den eigentlichen Quellen herleitbar wie der Bildungsroman. Eine ausgreifende Forschungstradition widmet sich bis heute wahlweise neuen Gattungsbestimmungen oder Versuchen, die Romane von der Vereinnahmung durch diese Theorie zu befreien. Wilhelm Voßkamps neuer Beitrag zum Thema ist der zweiten Linie zuzuschreiben, bleibt insgesamt aber eher am Rande des bestehenden Diskurses.

Sein "Ein anderes Selbst" betitelter Text geht auf einen Vortrag am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen zurück und untersucht klassische deutsche Bildungsromane des 18. und 19. Jahrhunderts anhand der etymologischen Ableitungen "Bild und Bildung". Ein dritter wesentlicher Begriff fehlt im Titel: die Einbildung. In der Wechselwirkung von Bild und Einbildungskraft sucht Voßkamp Argumente für die stetige Veränderung, der kanonisierte Bildungsromane im 19. Jahrhundert in formaler Hinsicht unterlagen. Die Abwendung vom klassischen Ideal, die häufig in Bezug auf den klassisch-deutschen Bildungsbegriff Herders, Goethes oder Humboldts als Verfallsgeschichte gelesen wird, skizziert Voßkamp in Einzelanalysen. Dabei bildet Goethes protoptypischer Bildungsroman "Wilhelm Meisters Lehrjahre" auch bei ihm den Ausgangspunkt der Untersuchung. Es folgen Einzelanalysen von Tiecks "Franz Sternbalds Wanderungen", Mörikes "Maler Nolten", Kellers "Der grüne Heinrich" und als Schlusskontrast Thomas Bernhards "Auslöschung. Ein Zerfall". Gerade in diesen Roman-Analysen isoliert der Autor jene strukturellen, ahistorischen Kriterien, die die substanziellen Veränderungen paradigmatischer Bildungsgeschichten im deutschen Roman überdauern. Das gelingt ihm, indem er sich, vom poetologischen ausgehend, einem anthropologischen, insbesondere subjekttheoretischen Ansatz zuwendet: Nicht mehr die Bildungsgeschichte und Vollendung des Helden stellt Voßkamp in den Vordergrund, sondern dessen Einbildungskraft und ihre Funktion für die Subjektbildung. Auf diese Weise versucht er einen Wandel des Menschenbilds im Verlauf des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen.

Voßkamp versteht "Bild" durchaus wörtlich: In den Romanen werden pikturale wie literarische Bilder "narrativiert anhand von transkriptiven Erzählverfahren", also in Form von Beschreibungen in die Erzählung integriert. Durch die Einbildungskraft der bildbetrachtenden Helden werden sie zu Medien der Selbstreflexion: In Motiven aus christlicher und antiker Mythologie sowie der bildenden Kunst und Literatur finden die Romanhelden ein Idealbild symbolisiert, das zur Identifikation einlädt. Sie eignen sich das Gesehene beschreibend und reflektierend an, verwandeln es in innere Bilder, die als Projektionen immer wieder hervorgerufen werden und dem Selbst Orientierung geben in einer Welt, die Individuen keine verbindlichen Daseinsbegründungen mehr bietet.

Mit diesen Einbrüchen des Bildhaften in die Erzählung wird der Erzählfluss durchbrochen zugunsten eines überzeitlichen Erlebnismoments, in dem sich eine Ahnung der eigenen Entfaltungsmöglichkeiten, ein Sinn für das eigene Werden einstellt. Voßkamp bezeichnet Bilder entsprechend als bedeutsame Zeichen auf dem Weg zur Vollendung des Helden; Zeichen, die als Rätsel oder geahnte Bedeutung den Lebensweg des Helden prägen und deren Bedeutung erst im Nachhinein entschlüsselt wird. Die Einbildungskraft erfüllt dabei die wichtige Aufgabe, eine Selbstprojektion in die Zukunft oder in den Raum des Möglichen zu werfen, ohne die ein personaler Sinnentwurf gar nicht zustande käme. Dadurch hat sie eine Schlüsselfunktion für die weltanschaulichen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts - gemeinhin als 'Säkularisierung' bezeichnet: Der neue, 'ganze' Mensch ist in seiner individuellen Freiheit auf sie angewiesen.

Das sich im Prozess der Individualisierung einstellende Bewusstsein, ein "sich selbst veränderndes Wesen zu sein" und dadurch einer Gefährdung zu unterliegen, wurde seinerzeit mit der Hoffnung auf Selbsterlösung entschärft, wie Voßkamp anhand des Herder'schen und Humboldt'schen Bildungsbegriffs darstellt. Diese Gefährdung, die in vielen Texten des späten 18. Jahrhunderts in drastischer Form dargestellt ist, erwächst aus dem unberechenbaren Wandel, den Subjekte im Prozess ihres Lebens durchlaufen müssen und durch den sie sich mitunter bis zur Unkenntlichkeit verändern können. Das Fehlen eines äußeren Grundes, auf den hin eine solche permanente Wandlung bezogen und gedeutet werden könnte, wird im klassischen Bildungsbegriff aufgefangen durch die Vorstellung einer den individuell eigenen Anlagen gemäßen, sich naturhaft und im Einklang mit der Schöpfung vollziehenden Selbstvervollkommnung und Selbstverwirklichung.

So betont Herder gleichzeitig die Zielgerichtetheit des Bildungsprozesses wie die Individualität jedes Subjekts, das seine Anlagen ausschließlich nach eigentümlichen Regeln zur individuellen Gestalt entfalten soll. Das Bildungsziel führt nicht nur das Individuum seiner persönlichen Vollendung entgegen, sondern lenkt zugleich auch die Fortentwicklung der Gattung Mensch. Und laut Wilhelm von Humboldt ist individuelle Bildung, die den "ganzen Menschen in allen seinen Kräften und allen seinen Äußerungen umfaßt", gleichzeitig die Voraussetzung für die "Fortschritte des Menschengeschlechts".

Aus diesem historischen Bildungsverständnis, insbesondere seinen teleologischen Implikationen, speist sich die Theorie des Bildungsromans, ungeachtet der Entwicklung, die der Bildungsbegriff in den folgenden Jahrhunderten nimmt. Allerdings stellt dieser Begriff nur einen Sonderfall positiver Anthropologie dar, der nicht nur dem französischen Moralismus und Sensualismus zuwiderläuft, sondern auch im deutschsprachigen Raum keine unangefochtene Geltung beanspruchen kann. Anthropologische Positionen wie die von Lichtenberg, Wetzel, Jacobi oder dem frühen Tieck, so unterschiedlich sie im Einzelnen auch sind, fechten den Anspruch auf unumschränkte Allgemeinverbindlichkeit an, den die Literaturgeschichtsschreibung Goethes "Wilhelm Meister" als dem prototypischen Bildungsroman zuschrieb.

Der Begriff Einbildungskraft ist im ausgehenden 18. Jahrhundert in jedem Fall wesentlich für die Theorie der Selbstwerdung. Sie ist die "Hauptkompetenz und Antriebskraft der Protagonisten im Roman, die die Teleologie ihrer Lebensläufe organisiert", wie es Voßkamp formuliert. Doch andererseits verführt sie zur Maßlosigkeit und Weltfremdheit und muss deshalb domestiziert werden. Diese negative Eigenschaft der Einbildungskraft gerät im Laufe der Literaturgeschichte zunehmend ins Bewusstsein der Romanhelden und erschwert deren realistische Selbsteinschätzung.

Die Entwicklung der Romanhelden, so weist Voßkamp nach, wird dabei von einer immer größer werdenden erzählerischen Skepsis gegenüber deren subjektivem Wirklichkeitssinn begleitet. Innere Bilder, Ahnungen oder künstlerischer Instinkt, die bei Goethe und Tieck noch eine zielgerichtete Entwicklung befördern und unmittelbar auf eine verborgene, auch im Subjekt wirkende Ordnung der Natur verweisen, verändern sich in den Romanen Mörikes und Kellers zur subjektiven Täuschung, die zu Selbstbetrug und falschen Totalisierungen, letztlich in eine unüberwindliche Distanz zur Lebenswelt führt. Die Einbildungskraft wird zur Gefahr für das Subjekt; die einbildende Aneignung stört den Prozess einer Versöhnung von Welt und Subjekt. Als Endpunkt seiner kleinen Geschichte der Selbstbildungsskepsis wählt Voßkamp schließlich Thomas Bernhards 'Auslöschung', wo angesichts des Bildes jede Identifikationsmöglichkeit durch Einbildungskraft geleugnet wird und das Ich gerade durch diese Absetzbewegung seine Individualität sichert. Kein "anderes Selbst" blickt Bernhards Erzähler aus den Familienfotos entgegen, kein Bild des Individuums, das seine Geschichte überdauern kann, wie es etwa Wilhelm Meister in seiner von der Turmgesellschaft angefertigten Lebensbeschreibung erhielt. Nur die Verzerrung, die Lüge, die einst jene Geschichte eines Lebens ersetzen und verdrängen wird, spricht aus der Fotografie zu Bernhards Erzähler. Die Illusion von Authentizität überlagert, was vom Menschen hätte bleiben können. In dieser Umkehrung hat sich die Faktizität der Individualität, so kann Voßkamps These zusammengefasst werden, letztendlich gegen die idealisierenden Projektionen der Einbildungskraft durchgesetzt - und damit der konkrete Einzeltext gegen die Gattungspoetik.

Kein Bild

Wilhelm Vosskamp: "Ein anderes Selbst". Bild und Bildung im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
112 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3892445257

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