"Ja, man wurde verprügelt. Ich zum Beispiel ..."

Wolfgang Hagen versammelt letzte Gespräche mit Niklas Luhmann

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Niklas Luhmann stammt der Satz: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur." Umso erstaunlicher, dass der Soziologe, der mit seiner Theorie sozialer Systeme den Medientheorien so nachhaltige Impulse gegeben hat, ausgerechnet das Leitmedium unserer Tage, das Fernsehen nämlich, ignoriert hat.

Freilich nicht aus ideologischen Gründen. Dass sein Ein-Personen-Haushalt im westfälischen Oerlinghausen zu jenen zwei Prozent gehörte, die keinen Fernseher besitzen, begründete Luhmann - mit der für ihn typischen entwaffnenden Unaufgeregtheit - so: "Weil in den wenigen Momenten, wo ich Zeit habe, nie irgendwas kommt, was mich interessiert." Empirisches Material für seine Thesen über die "Realität der Massenmedien" und ihre drei Programmbereiche Nachrichten, Unterhaltung und Werbung gewann er en passant, auf Vortragsreisen in Hotelzimmern, die mit TV-Geräten ausgestattet waren.

Der Bielefelder Soziologe hat dieses Kuriosum im Rahmen eines Radiogesprächs mit Wolfgang Hagen gestanden. Dass es jetzt nachgelesen werden kann, ist dem Interviewer zu verdanken, der es zusammen mit zwei weiteren Gesprächen aus Luhmanns letzten Lebensjahren (eines davon mit Alexander Kluge) sowie einer Diskussionsrunde, die Hagen mit Dirk Baecker und Norbert Bolz veranstaltete, gesammelt herausgegeben hat.

So bestechend scharf und abstrakt Luhmann im Medium der Schrift formulieren konnte, so sympathisch umständlich gerieten seine mündlichen Äußerungen, zumal da, wo es um Persönliches, ja um traumatische Erfahrungen geht. Etwa um seine Erlebnisse in der Kriegsgefangenschaft: "Ja, man wurde verprügelt. Ich zum Beispiel, und das war ja gar nicht vorgesehen in der Genfer Konvention". Ein Erlebnis von Chaos und Kontingenz, das dazu geführt haben soll, dass er sich bei der Wahl des Studienfaches für Jura entschied - weshalb einige Luhmann-Forscher heute davon ausgehen, die Systemtheorie verdanke sich letztlich jenen frühen Gewalterfahrungen Luhmanns. Nicht weniger prägend waren freilich die Erlebnisse im Krieg selbst: "Wenn man sieht, wie jemand, der neben einem läuft, eine Granate ins Gesicht bekommt, und wie er vorher und wie er nachher aussieht, da hat man dann das Gefühl: Worüber jammern die Leute heute eigentlich."

So sind es beinah mehr noch als die theoretischen Erläuterungen die in diesen Gesprächen verstreuten biografischen Auskünfte, die das Buch lesenswert machen. Wie die Erklärung, warum Luhmann Anfang der sechziger Jahre seine Beamtenlaufbahn abgebrochen hat: "das Innenministerium hat immer, bei jeder Beförderung, die ich anstehen hatte, blockiert, weil ich nicht die normale Beamtenlaufbahn hatte, also nie auf dem Landkreis bei einem Feuerwehrfest gewesen war und so. Ich werde nie ein ordentlicher Beamter, wenn ich mich also nicht auf einem Feuerwehrfest betrinke. Und dann habe ich eben gesagt, ich lese Hölderlin, das müsste ja eigentlich ..., aber das hat nicht überzeugt. Das war alles unklar." Oder wie die Darstellung seines Verhältnisses zur Studentenbewegung: "Also das, was dann nachher mit Emanzipation ..., das war ja wirklich fast unerträglich, von der Benehmensseite her, aber auch von den vagen Vorstellungen, die sie hatten." Oder wie die Begründung, warum er nach dem "Verzetteln" seiner Lesefrüchte in seinen berühmten Zettelkasten ein Buch, und sei es ein Standardwerk von Husserl, nicht noch einmal liest und daher Missverständnisse, Fehllektüren oder Irrtümer nie mehr korrigiert werden: "... lese ich nicht noch mal, ich meine, ich könnte, aber ich habe ja gar keine Zeit, ich muss ... Ich lese sehr stark problemorientiert immer und ..."

Titelbild

Wolfgang Hagen (Hg.): Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann. Dirk Baecker, Norbert Bolz, Wolfgang Hagen, Alexander Kluge.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2004.
144 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3931659593

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch