Familiengeschichte als Welt- und (Un-)Heilsgeschichte

Ein Sammelband zu Familienmustern und Musterfamilien in der Literatur

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich". Der berühmte Anfang von Tolstois Roman "Anna Karenina" wird in dem von Claudia Brinker-von der Heyde und Helmut Scheuer herausgegebenen Sammelband zur Konstruktion von Familie in der Literatur gleich von mehreren Beiträgern zitiert. Während sich Lothar Mikos affirmativ auf ihn bezieht, korrigiert ihn Walter Erhard in seiner Arbeit über den "Mythos zerfallender Familien" am Beispiel der "Buddenbrooks" dahingehend, dass auch unglückliche Familien eine "ihnen gemeinsame Struktur" besitzen, "eine kulturelle Form, die eben nicht individuell, auf ihre je eigene Art, sondern allgemein" ist.

Wie Brinker-von der Heyde in der Einleitung darlegt, versteht sich der auf eine im Jahr 2002 durchgeführte Ringvorlesung an der Universität Kassel zurückgehende Band als Einführung, deren Ziel es ist, anhand beispielhafter Lektüren auf die "Pluralität und Historizität von Familienmodellen" in der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart aufmerksam zu machen, ohne dabei jedoch "die immer wiederkehrenden Muster und deren unterschiedliche Aussage bzw. Wertung" zu vernachlässigen. Den Anfang macht Brinker-von der Heyde selbst mit einem Überblick über Familienmodelle des Mittelalters, wobei sie einen besonderen Blick auf Eschenburgs "Parzival" wirft, in dem Familiengeschichte mit "Weltgeschichte und (Un)Heilsgeschichte" identisch werde. Maria E. Müller beleuchtet das Thema in der Erzählliteratur der Frühen Neuzeit. Matthias Luserke-Jaqui ist mit einer "gekürzte[n] Vortragsfassung" eines bereits publizierten Textes über Heinrich von Kleists Trauerspiel "Die Familie Schroffenstein" vertreten. Thomas Anz widmet sich Autorität und Familie in Literatur, Psychoanalyse und Kulturwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Den engeren Rahmen literaturwissenschaftlicher Textinterpretation sprengen auch die beiden letzten Beiträge, in denen Lothar Mikos Fernsehfamilien im Wandel der Zeit und Ulf Abraham "Harry Potter" als Familienlektüre untersuchen.

Die AutorInnen stellen eine Vielfalt (nicht nur) literarisierter Familien vor, die deutlich macht, dass der Begriff Familie "keineswegs eine feste, eindeutig definierbare Größe benennt". Vielmehr verbinden sich mit ihm "[j]e nach historischem Ort und Zeit, nach Kulturkreis, nach sozialer Schicht und Status [...] völlig unterschiedliche Vorstellungen und Lebensweisen", wie Claudia Brinker-von der Heyde betont. Doch vergisst sie nicht anzufügen, dass die Familie bei allen Wandlungen stets als "interaktiv gelebte Gemeinschaft" gegolten hat.

Eines der misogynsten Familien- und Frauen-Modelle nicht nur des 19. Jahrhunderts hat Wilhelm Heinrich Riehl in seinem 1855 erschienenen Bestseller "Die Familie" entworfen, in dem er ein "patriarchalisches Familienregiment" propagiert. Die "natürliche Obervormundschaft" des "Familienvaters" über Frau und Kinder betrachtet Riehl als "Urrecht", das "in der Natur der Sache" begründet sei. "Das Weib" trete "unter die Autorität des Mannes" nicht etwa, weil sie dazu gezwungen werde, sondern "weil sie es ihrer Natur nach gar nicht anders kann und mag". Es wirke in der Familie, "bringt ihr sein Bestes ganz zum Opfer dar" und "lebt das Leben des Mannes". "So war es seit die Welt stehet und so wird es bleiben", konstatiert Riehl zufrieden. Helmut Scheuer geht dem Einfluss nach, den solcherlei von Riehl mit "missionarischem Eifer" verbreitetes Gedankengut auf den Patriarchalismus in der Literatur des 19. Jahrhunderts hatte. Es sei kaum möglich, ihn zu überschätzen, erklärt Scheuer, denn schließlich handele es sich bei Riehls Werk um das "erfolgreichste Buch zur Geschichte und Theorie der bürgerlichen Familie", in dessen Folge nicht nur die Romane der Erfolgsautorin Eugenie Marlitt "die Leser - und vor allem die Leserinnen - auf das Riehlsche Modell der patriarchalischen Familie verpflichtet" haben.

Weniger überzeugend als Scheuers Ausführungen fällt der Beitrag von Lothar Mikos aus. Zwar kündigt der Autor an, der "Repräsentation von Familie im Fernsehen" nachzugehen und darzulegen, "wie das Fernsehen in seinen Programmformen das soziale Konstrukt Familie aufgreift und in ein mediales Konstrukt, eben eine mediale Repräsentation überführt". Tatsächlich aber zieht er ausschließlich fiktionale Sendungen heran. Zudem konzentriert er sich ganz auf Familienserien. Dieses Genre fasst er allerdings so weit, dass sämtliche Sendungen des Formats Serie darunter zu subsumieren sind. Auch ist sein Familienbegriff nicht ganz eindeutig, wenngleich er eingangs betont, mit Familie keine soziale Kategorie, sondern eine sozialpsychologische zu meinen, "die ganz allgemein zwischenmenschliche Beziehungen kennzeichnet". Es ist nicht zuletzt dieser weite Begriff, der es ihm ermöglicht zu behaupten, dass "prinzipiell" nur "Familiengeschichten" "Seriencharakter" besitzen können und zwar aufgrund ihrer "strukturellen Gegebenheiten der familialen Interaktionsstrukturen". Im Laufe seines Beitrags benutzt er dann zwar meist einen engeren Familienbegriff als den zuvor definierten, doch zieht er zur Illustration seiner Thesen immer wieder die "Kriminalreihe" "Derrick" heran. Mikos' Aufsatz wäre kaum weiter erwähnenswert, würde er nicht durch konsternierend frauenfeindliche Bemerkungen hervortreten. Dass er die "Emanzipation der Frau" ein "Problem" nennt und in eine Reihe mit "Arbeitslosigkeit, Rechtsradikalismus, Aids etc." stellt, könnte man vielleicht noch einer missglückten Formulierung anlasten oder als nur unbedachten Ausrutscher entschuldigen, wäre da nicht das von ihm vertretene Geschlechterklischee, demzufolge "Frauen nicht nur ihren Alltag, sondern auch ihre Wünsche, Sehnsüchte und Phantasien" in "melodramatischen Erzählformen" wiederfinden, deren Figuren "einfach charakterisiert und ohne große psychologische Komplexität" sind.

Titelbild

Claudia Brinker-von der Heyde / Helmut Scheuer (Hg.): Familienmuster - Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
239 Seiten, 37,80 EUR.
ISBN-10: 3631506643

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch