Trau' keinem Mediziner

Die neue Ausgabe der "Scheidewege"

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es macht keinen Spaß im Vergnügungspark Hochzivilisation. Die Achterbahn des Fortschritts mündet direkt in die Senkgrube Globalisierung, begleitet vom Lärmen der immerwährenden ökologischen, sozialen und politischen Krisen. Weitaus angenehmer reist es sich in der Retourkutsche. "Scheidewege - Jahresschrift für skeptisches Denken", steht in altmodischen Lettern auf der Tür, die wir für die Dauer dieser Lektüre einen Spalt breit öffnen.

Ein Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe liegt auf der Medizinkritik. Thomas Fuchs beklagt die Verdinglichung des Lebens durch die biotechnologischen Wissenschaften. Indem die heutige Biomedizin Leben im Labor herstellt, es in Einzelzustände zerlegt und es zu einem Konglomerat physikalischer Daten verrechnet, ignoriert sie zugleich die spontane und selbstvergessene Eigentätigkeit des Leibes wie Atmen, Einschlafen oder die Äußerung von Gefühlen. Die Dämonen, die die Biomedizin so nachhaltig aus ihrem naturalisierten Weltbild zu vertreiben vorgibt, so befindet Heinz Schott in seinem Beitrag zur Tradition des "Okkulten" in der Medizin der Neuzeit, begehren durch die Hintertür umso nachhaltiger Einlass.

Till Bastian und Dietmar Hansch suchen die moderne Hirnforschung "im Reich der überschätzten Möglichkeiten" auf. Was sich so ostentativ zur neuen Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts aufspreizt, so die Autoren, ist von nachweisbaren klinischen Erfolgen noch weit entfernt. Klaus Michael Meyer-Abich stellt die Frage "Kommen Krankheiten von außen oder von innen?" und findet die Lösung in einer Komplementärmedizin, die körperliche Krankheiten als "Umwege" deutet, auf denen sich der Kranke einer psychischen Herausforderung entzieht. Anstatt Krankheiten "beseitigen" zu wollen, wären sie bewusst als Gesundungsprozess zu gestalten. Ziad Mahayni hat selbst auf dem Operationstisch Platz genommen und berichtet aus phänomenologischer Sicht von seinen Erfahrungen "unter Teilnarkose".

Auch sonst haben die neuen "Scheidewege" auf vielen Seiten Bedenkenswertes zu bieten, ja fast ist man versucht zu sagen: Jeder einzelne Beitrag lohnt die Anschaffung des ganzen Bandes. Michael Hauskeller untersucht Totenkulte als anthropologisches Grundbedürfnis und plädiert für die Berechtigung unterschiedlicher Formen, den Toten Ehre zu erweisen. Reinbert Tabbert sinniert über Bilder Winand Victors. Ilse Onnasch stimmt ein kritisches "Loblied auf die Mobilität" an. Burkhard Liebsch analysiert, wie sich Gewalt in der Sprache einnistet. Mins Minssen erinnert sich an das Paradies seiner Kindheit. Und Ludger Lütkehaus begibt sich auf die "Suche nach der vergeudeten Zeit".

Titelbild

Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken. 34. Jahrgang 2004/2005.
Herausgegeben von der Max Himmelheber Stiftung.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2005.
424 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3777613169

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