'Hüter der Verwandlung'

Bisher ungedruckte Kafka-Lektüren Elias Canettis

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem 1935 sein Erstlingswerk "Die Blendung" nach mehrfachen Abbrüchen und Umwegen endlich im Wiener Herbert-Reichner-Verlag erscheinen konnte, geriet Elias Canetti in eine psychische Krise: Während sich seine Frau Veza mit Selbstmordgedanken trug, balancierte der latent paranoide Canetti an der Grenze zum Wahnsinn, der sich unter anderem auch in der Unfähigkeit äußerte, ein weiteres Werk ernsthaft zu beginnen. Die für Canetti einzig mögliche Schriftform damaliger Zeit waren polyfone Aufzeichnungen, Textminiaturen, die Anfang der vierziger Jahre immerhin in literarische Form gebracht werden konnten. Der Autor selbst machte sich zunehmend Vorwürfe, seine knapp bemessene Lebenszeit zu verschwenden, arbeitete pausenlos, jedoch ohne greifbares Ergebnis. Vom geplanten zweiten Roman sind nur dürftige Skizzen überliefert. Die sich immer weiter hinauszögernde Beendigung eines nicht übermäßig umfangreichen Einführungsvortrags über "Proust - Joyce - Kafka", den Canetti in englischer Sprache im August 1948 in der Bryanston Summer School auf Englisch hielt, geriet gar zum partnerschaftlichen Politikum. Veza Canetti drohte mit Scheidung, wenn der schreibgehemmte Ehemann hier zu keinem Ende kommen könne.

Das Manuskript des schließlich eherettenden Prosatextes schlummerte jahrelang im Besitz des Marie-Lousie von Motesiczky Charitable Trusts in London, mehr oder weniger unentdeckt von der literaturkritischen Öffentlichkeit. Erstmals abgedruckt liegt der Einführungsvortrag nun im abschließenden zehnten Band der Werkausgabe Canettis vor, der verstreute Schriften und Reden enthält. In ihnen hat sich Canetti vielfältig mit den Künsten und Künstlern auseinander gesetzt: mit der Literatur von Hebel über Keller bis eben zu Kafka, Proust und Joyce, mit der Bildhauerei und Malerei von Merkel über Wotruba bis zu Hrdlicka und immer wieder mit dem Theater. Sein nachmalig berühmtes Gespräch mit Theodor W. Adorno und eine ganze Anzahl weiterer Interviews und Gespräche zur eigenen Lebensgeschichte und zur Zeitgeschichte vermitteln einen Eindruck von Canettis unübertroffener Direktheit und mitunter fehlenden Diplomatie bei ästhetischen Urteilen. Sie lassen erahnen, wie der Schriftsteller gewirkt haben muss, wenn er in zum Teil monologischen Gesprächen aus sich herausging.

Bekanntlich glich Canettis Verehrung für Kafka, auf den er sich auch in seiner (ebenfalls im zehnten Band der Werkausgabe abgedruckten) Rede bei der Verleihung des Nobelpreises für Literatur am 10. Dezember 1981 vor allem deshalb als Fixpunkt für sein eigenes Schreiben bezog, weil es ihm "gegeben war, sich ins Kleine zu verwandeln und sich so der Macht zu entziehen", mit den Worten Peter von Matts einem "Verzehren". "Wem es um Einverleibung geht, der spricht sein Urteil anders aus als die Kenner, die Museumshüter der Kultur. Wem es um Einverleibung geht, der kann nur aus der Mitte seiner Existenz heraus antworten. Auf den Zuruf der Werke ruft er wahrhaftig mit Leib und Seele zurück". Das alles berührt sich mit dem schwierigsten und vielleicht wichtigsten Moment, wo die Verwandlung in das Gegenüber zur scharfen Trennung wird. Das Ich wird zum Anderen in einem Akt nie ganz erklärter Verschmelzung, diese aber ist die Voraussetzung dafür, dass der Andere im Akt der Trennung der wirklich Andere des Ichs sein und bleiben kann. Nur die Verwandlung macht die Abgrenzung möglich, in der der Andere in sein Recht und seine Würde tritt. Unter den modernen Schriftstellern ist Kafka für Canetti "der einzige, der die Zukunften, wenn man so sagen kann, in seinen zitternden Gliedern spürt. Er versucht nicht, sie loszuwerden. Er arbeitet sie geduldig aus, einmal auf diese Art, einmal auf jene. Sein Mut erscheint gewaltig, und sein Mut bringt ihn um. Während die Völker Europas gehorsam ihren Ersten Weltkrieg führen, schlägt er standhaft seine privaten Schlachten mit der Zukunft. Er merkt nicht einmal, wie mutig er ist. [...] Als kleiner Angestellter bei einer Versicherung trug er die Last von jedermanns Zukunft. Kafkas Werke sind wie Pläne und Blaupausen, aber nicht von Häusern und Fabriken, auch nicht von Schlachten, es sind die Pläne von individuellen und unbekannten Ereignissen".

Im letzten Drittel des Vortrags begegnet die mitunter schon berühmt gewordene Doppelfigur der Canettischen Kafka-Interpretation: Zweifel und Macht. "Der Prozeß, durch den Kafka sich am stärksten von anderen unterscheidet, ist ein Prozeß des Zweifelns. Dies ist seine Art, die Welt zu erleben; in der schmerzlichen Geschichte seiner Verlobung, die sich über einen Zeitraum von fünf Jahren hinzieht, treibt er diesen Prozeß so weit, daß er so etwas wie seine künstlerische Substanz wird. Die Isolation eines Prozesses, der so sehr in seiner Natur liegt und so beständig ist, scheint fast unmöglich, doch es gelingt ihm zum Teil; in seinen Werken kommt [...] die ganze Skala des Zweifels zum Ausdruck. Seine andere Substanz ist Macht; es ist die eigentümliche Faszination, die von der Macht seines Vaters ausging, die ihm - so grausam es klingt - dazu verhalf. [...] Er lernte, sich klein zu machen, so klein, daß er schließlich verschwand; und nur durch einen glücklichen Zufall sind seine Werke nicht mit ihm verschwunden". Zwanzig Jahre später begegnet der Umstand, dass Canetti anhand von Kafkas "Zweifel" eine 'Theorie' des Schreibens entwirft, auch in seinem langen Essay über Kafkas Briefe an Felice Bauer. Dort heißt es treffend: "Unter allen Dichtern ist Kafka der größte Experte der Macht. Er hat sie in jedem ihrer Aspekte erlebt und gestaltet". Anders als in "Masse und Macht", dem zwischen Kafka-Vortrag und Kafka-Essay entstandenen opus magnum Canettis, dem Text also, in dem Canetti seine Kenntnisse in Sachen Macht unter Beweis gestellt hat, stehen bei Kafka weniger die Repräsentanten der Macht im Blickpunkt, als vielmehr das, was die Macht produziert. Folglich exponieren Canettis Kurzinterpretationen zum Werk Kafkas die Demütigungen, Erniedrigungen und die Ohnmacht, die die Figuren vor allem und gerade dann erfahren, wenn die Macht in keinem Repräsentanten lokalisierbar ist, sondern einen aporetischen Kommunikationsraum schafft, in dem sich die Wahrheitssuche und Selbstfindung des Menschen angesichts einer Verselbständigung der Diskurse ad absurdum führt.

Was Kafkas Figuren in Canettis Lesart offenbar nicht vergönnt ist, scheint dem Autor Kafka jedoch zu gelingen: eine produktive Wendung der Macht im Zeichen von Unterwerfung und Subversion. Canetti hat in diesem Zusammenhang verschiedene Reaktionsmuster herausgearbeitet, die es Kafka ermöglichen, sich der Macht immer wieder zu entziehen. Neben der "Verwandlung ins Kleine" rückt dabei vor allem eine Verhaltensweise in den Mittelpunkt, die er "Verstocktheit" nennt. Entscheidend hierbei ist, dass diese Verhaltensweise nicht nur gegenständlich bestimmt wird als eine Strategie, sich Instanzen der Macht auszuliefern und ihnen zugleich zu entkommen, sondern auch autortheoretisch gewendet werden kann. Das führt schließlich zu der These, dass sich Kafkas "eigentliche Begabung" als eine Technik dechiffrieren lässt, die auf den Prozess einer Transformation von Diskursen abzielt und damit unverkennbar im Kontext von Canettis Begriff des Autors als 'Hüter der Verwandlungen' steht. Dieser Terminus weist auf die Diversifikation und spielerische Entfaltung von Sinn im ungebundenen und zugleich intentional gesteuerten Spiel der Bedeutungszuweisungen hin und lässt die für Canettis Schreiben zentrale Todesproblematik in metaphorischer Hinsicht deutbar werden. Denn unverkennbar spiegelt die an Kafka gewonnene Vorstellung von der 'unendlichen Niederschrift' die Anstrengung wider, die Vergänglichkeit in nichts anzuerkennen, nicht im autobiografisch gestalteten Leben, in der Ordnung der Geschichte nicht und auch nicht in dem, was diese produziert: das "literarische Erbe der Menschheit", das Canetti in seiner Essaysammlung "Das Gewissen der Worte" verhandelt und das weiter fort- und umzuschreiben Canetti zur eigentlichen Aufgabe des Dichters erklärt. Unter diesen Vorzeichen erscheint Canettis Werk als eine Textentfaltung, die seine Autorschaft erst hervorgebracht hat und vom Verschwinden und Bleiben des Autors und seiner Vorbilder und Vortexte handelt.

Die an Kafka herausgestellte paradoxe Verschränkung von Schreibstrom und Textidee ist hierfür ein gutes Beispiel, verweist sie doch unverkennbar auf ein Konstrukt, das sich bereits in Canettis Theorem des Grundeinfalls und seinen konstellativen Abwandlungen sowie im Schlusstableau der "Befristeten" abzeichnet und schließlich in "Masse und Macht" im Bild von Doppelfigur und Maske konkretisiert wird. Canettis an Kafkas Texten entwickelte Theorie des Schreibens im Sinne einer Verwandlung von Diskursen lässt sich auch an jenen Passagen beobachten, die über den Stellenwert von Tieren im erzählerischen Werk Kafkas handeln und wie die Fortführung der in zahlreichen Aufzeichnungen Canettis entfalteten Betrachtungen zu eben diesem Themenkomplex erscheinen. Das Gleiche gilt auch hinsichtlich der Vorliebe für chinesische Literatur und der in diesem Zusammenhang erneut diskutierten Verwandlung ins Kleine als ein Verfahren, sich der Macht zu entziehen.

Aufgrund dieser weit reichenden textuellen Verschachtelung von Diskursen kann oftmals nicht mehr entschieden werden, welche Kausalitätsbeziehungen im Verhältnis von Kafka und Canetti vorherrschen. Es bleibt vielmehr offen, inwieweit die Affinitäten von Canettis Entwürfen zu der Gedankenwelt Kafkas einer Auseinandersetzung mit dessen Werk entspringen oder umgekehrt als Projektion gewertet werden müssen. Immerhin kann festgehalten werden, dass nicht erst der Essay "Der andere Prozeß", sondern bereits der frühere Vortrag über Kafka mehr darstellt als die Rekonstruktion einer bestimmten Lebensphase Kafkas. Beide Texte folgen dem Gestus der Wiederholung, um das Wiederholte zugleich in eine feste Struktur einzubinden, in der alles Geschriebene dadurch Bedeutung erhält, dass es auf etwas anderes verweist. Vielleicht hat Horst Bienek in seiner Laudatio zur Verleihung des Nelly-Sachs-Preises an Elias Canetti im Jahre 1975 genau diesen Aspekt hervorheben wollen. Danach erscheinen ihm Canettis Texte als eine "ununterbrochene Aufzeichnung", als ein Prozess, der keinen Anfang und kein Ende kennt, dem eine kontinuierliche Entwicklung fremd ist und der deshalb in eine Spiegeltiefe führt, die das schreibende Ich gewissermaßen nur noch in seinen textuellen Brechungen bewahrt.

Den Aufzeichnungen Beat Schläpfers zu Canetti, die von der ersten Hälfte des Jahres 1992 datieren und gegen Ende der wunderbaren Sammlung von Stimmen zu "Canetti und Zürich" zu finden sind, ist zu entnehmen, dass sich Canetti nicht sicher war, "ob er in zwanzig, dreißig Jahren noch gelesen werde. G.B. Shaw - er selbst (Canetti) habe es verblüfft miterlebt - sei mit dem Tag seines Todes von einer allseits beherrschenden Autorität in die absolute Verleugnung gefallen. Warum? Er habe zu lange gelebt, zu lange alle beherrscht. Und Thomas Mann? 'Der lebt noch immer, dank seines immensen Streichs, den er gespielt hat. Es gibt Leute, die heute nur seine Tagebücher lesen. Dabei ist das doch alles vollkommen bedeutungslos [...]'. Canetti selbst führt ('in meiner Stenographie, die man später entziffern muss') tägliche Aufzeichnungen und ein Tagebuch. Das Tagebuch mit gelegentlich langen Abständen, mit Berichten, Schilderungen von wichtigen Begegnungen. 'Es gibt kaum ein schonungsloseres Tagebuch als dieses. - Na, zwei oder drei vielleicht schon'". Wenn der Überlebende nach Canettis Anthropologie, die sich offenkundig sogar bis in seine privatissima erstreckte, der Machthaber ist, so hat er selbst versucht, dieser Macht im Angesicht des Todes Grenzen zu setzen. Zu dieser Politik gehört die Nachlassregelung, die ebenjene Tagebücher und Briefe noch bis 2024 sperrt. Bis dahin muss man sich mit dem begnügen, was Canetti nach den Schreibkrisen der vierziger und fünfziger Jahre berühmt gemacht hat und zu den schönsten Wendungen der an unglücklichen Autorenbiografien überreichen Literatur des vergangenen Jahrhunderts gehört. 1960 findet sich mit Claassen in Hamburg ein Verlag für "Masse und Macht"; dem Hanser-Verlag gelingt es mit allergrößtem Engagement, einen der bedeutendsten Romane deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts, "Die Blendung", im dritten Anlauf endlich durchzusetzen. Die von 1977 bis 1985 erschienene autobiografische Trilogie (mit deutlich hagiografischen Zügen) wird schließlich zu einem späten Triumphzug, zu einer Abfolge von Publikationen und Ehrungen, die 1981 im Nobelpreis kulminiert.

Die angedachte Fortsetzung von "Masse und Macht" blieb jedoch ebenso ungeschrieben wie ein weiterer Roman oder das umgreifende Projekt des "Totenbuches", das er noch bis in seine letzten Lebenstage hinein angehen wollte. Wer sich über diese zweite Werkphase kundig informieren möchte, sollte zu der von Werner Morlang herausgegebenen, weiter oben bereits erwähnten Anthologie "Canetti in Zürich" greifen, wo sich auf etwas mehr als 200 Seiten die Erinnerungen von Menschen aus Canettis unmittelbarem Umfeld in Zürich finden, mit deren Hilfe ein facettenreiches, lebensnahes Porträt des Nobelpreisträgers entstanden ist, das so manches köstliche Schmunzeln bereit hält. Am besten man konsultiert parallel hierzu auch die von Kristian Wachinger im Hanser-Verlag edierte Sammlung von Bildern, Gesichtern und Schauplätzen, die Canetti in seinen autobiografischen Büchern geschildert hat, die aber auch im "Ohrenzeugen" und in den "Aufzeichnungen" gegenwärtig sind - von Wien, Zürich, Berlin und Prag bis nach Paris, London und Marokko, von den Großeltern und Eltern über Schul- und Künstlerfreunde bis zu den geliebten Frauen und Schriftstellerkollegen. Die größtenteils unbekannten Aufnahmen zeigen aber auch Menschen, die Canetti in seinen Texten verschwiegen hat, darunter auch die schon genannte Malerin Marie-Louise von Motesiczky, Bestandteil der im englischen Exil mit Veza und der ebenfalls emigrierten Friedl Benedikt gepflegten ménage à quatre, der Canetti eine Auswahl der Aufzeichnungen des Jahres 1942 gewidmet hat, die nun, komplett faksimiliert, aus ihrem Nachlass herausgegeben wurde.

89 Jahre ist der am 14. August 1994 in Zürich verstorbene Elias Canetti geworden. Die Vollendung Thomas Manns, mit der er in seinen Aufzeichnungen ablehnend-zustimmend kokettierte, ist ihm versagt geblieben. In diesem Juli würde er seinen 100. Geburtstag feiern. Zeit und Anlass genug, sich mit dem noch immer weitgehend unerforschten Text- und Lebenskontinent Canetti intensiver auseinander zu setzen.

Titelbild

Elias Canetti: Aufsätze - Reden - Gespräche. Werke. Band 10.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
398 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-10: 3446185208

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Titelbild

Elias Canetti: Aufzeichnungen für Marie-Louise. Aus dem Nachlass herausgegeben. Mit der vollständigen Abbildung des handschriftlichen Originals.
Mit einem Nachwort von Jeremy Adler.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
116 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3446205942

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Titelbild

Elias Canetti: Bilder aus seinem Leben.
Herausgegeben von Kristian Wachinger.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
176 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446205993

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Titelbild

Werner Morlang (Hg.): Canetti in Zürich. Erinnerungen und Gespräche.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2005.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3312003539

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