Juden sind auch nur Menschen

Rafael Seligmanns neuer Roman "Der Milchmann"

Von Julia SchöllRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schöll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie nennen ihn den Milchmann, denn Jakob Weinberg hat vor langer Zeit im KZ eine gefundene Kiste Milchpulver in seiner Baracke verteilt und die Mithäftlinge vor dem Verhungern gerettet. So will es jedenfalls die Legende. Doch mit der Realität hat sie wenig zu tun. Weinberg hat nicht nur das Milchpulver nicht freiwillig hergegeben, er hat im KZ auch einen Mord begangen, um das eigene Überleben zu sichern. Und Weinberg hat überlebt. Die Wahrheit kennt nur er selbst. So nennen ihn seine jüdischen Freunde heute den Milchmann, lassen sich die alte Geschichte wieder und wieder erzählen und feiern ihn als Helden. Sie waren alle im KZ und keiner von ihnen hat wohl eine weiße Weste, so vermutet Weinberg. Dennoch läßt ihn die Angst nicht los, die Wahrheit über seine heroische Tat könnte eines Tages ans Licht kommen. Aber: "Ein Held hat tapfer und furchtlos zu sein. Angst haben wir selbst. [...] Sobald einer zum Helden gekürt ist, klebt an ihm der Ruf der Furchtlosigkeit wie Hundekot an der Sohle. Der Träger erliegt rasch dem Gestank und beginnt, an das eigene Heldentum zu glauben." Und so spielt Weinberg vor sich selbst und den anderen den Mutigen, obwohl die Angst ihm den Atem nimmt. Denn nicht nur vor der Vergangenheit, auch vor der Gegenwart, dem Altwerden und dem Sterben, fürchtet er sich, seit sein Arzt eine Gewebeprobe entnommen hat, um sie auf Krebs hin untersuchen zu lassen.

Rafael Seligmann ist nicht der Ansicht, das KZ sei eine Art Besserungsanstalt gewesen und die Juden seien dort zu edleren Menschen geläutert worden. Er widerspricht der Heiligsprechung aller Juden durch das deutsche schlechte Gewissen. Seine Juden sind (fast) normale Deutsche, auch wenn sie es selbst nicht wahrhaben wollen, weil es für sie einem Verrat am Judentum gleichkäme.

Seligmanns neuer Roman begleitet Jakob Weinberg während der Woche, in der er auf das Ergebnis der Untersuchung wartet, und folgt ihm durch das München unserer Tage. Doch für Weinberg scheint sich nicht viel geändert zu haben seit damals, er sieht die Stadt mit dem Blick eines Verfolgten. Deutschland ist für ihn immer noch "Mörderland", an allen Ecken lauert Gefahr. Man muß auf der Hut sein, wenn man wie Weinberg der Ansicht ist, daß das Leben ein einziger Kampf ist, den nur die Stärksten überleben. Und niemand steht ihnen bei, denn Gott ist tot - seit Ausschwitz. So kämpft Weinberg allein und läßt weder die Chawerim, die Freunde, noch seine Lebensgefährtin Barbara wirklich an sich heran. Seine Kinder machen ihm auch wenig Freude, seine Tochter verläßt ihren Ehemann in Israel, der ihr vom Vater verordnet wurde, und sein Sohn wird gar Vater eines deutschen Kindes, eines Goi. Dabei ist auch Weinbergs Freundin eine Schickse, eine Deutsche und Nicht-Jüdin, doch bei ihm ist das etwas anderes. Schließlich hat er vorher mit einer jüdischen Frau Kinder gezeugt, um das israelische Volk vor dem Aussterben zu bewahren. Der Generationenkonflikt wird schon an der Sprache sichtbar: Weinbergs Generation spricht ein deutsch-jiddisches Kauderwelsch, das sein Sohn fast nur noch ironisch verwendet.

Lange braucht Weinberg, bis er zu der Einsicht gelangt, daß Deutschland nicht mehr "Nazi-Land" ist - "auch wenn seine Erde vom Blut der ermordeten Juden schrie. Jakob Weinberg, seine Mischpoche und Freunde waren deutsche Juden geworden, ohne es zu wollen."

Rafael Seligmann, der als Kind mit seinen Eltern von Israel nach München übersiedelte, kennt das Milieu, das er schildert. Er ist groß geworden mit den KZ-Geschichten, dem Haß und dem Schmerz. Doch er gehört der Generation der Söhne an. Er weiß, wer er ist und wo er hingehört und kann es sich erlauben, die Tabus der Vätergeneration zu brechen. In den letzten zehn Jahren hat Seligmann sich mit seinen Romanen zum Enfant terrible des deutschen Judentums entwickelt. Mit seinen realistischen und ironischen Darstellungen eckt er überall an, was ihm glücklicherweise weder seine spitze Zunge noch seinen Humor genommen hat. Shakespeares Shylock, so Seligmann in einem Interview, habe ihm als jüdische Figur immer viel besser gefallen als der weise Nathan, der nur eine Idealisierung sei. So dürfen Seligmanns Juden rechthaberisch, geizig und streitsüchtig sein. "Juden sind auch nur Menschen", läßt er Barbara feststellen.

Seit man ihm von jüdischer Seite vorwirft, er schreibe jüdische Lindenstraße, hat Seligmann prompt den Vorwurf in einen Vorschlag verwandelt. Genau das möchte er gerne sehen: Alltagsgeschichten von ganz normalen Deutschen, die eben zufällig jüdischen Glaubens sind. Bei Seligmanns Talent würde es nicht verwundern, wenn er den Vorschlag eines Tages verwirklichte. Immerhin spielt die Lindenstraße in München - und da kennt Seligmann sich aus.

Titelbild

Rafael Seligmann: Der Milchmann.
dtv Verlag, München 1999.
340 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3423241772

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