Alles andere als ein Überflieger

Von Antihelden und alten Bekannten in Hans-Ulrich Treichels neuem Roman "Menschenflug"

Von Daniela VölkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniela Völker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Antiheld ist ein Figurentypus, dem im Gegensatz zum klassischen Helden heroische Eigenschaften fehlen, ein Meister im Scheitern, der sich aber seit jeher in der Literatur tummelt. Man denke hierbei an den Simplizissimus Grimmelshausens oder Eichendorffs Taugenichts, aber auch an Leberts Benjamin in "Crazy" oder andere Gleichgesinnte in der modernen deutschsprachigen und der so genannten Pop-Literatur. In unserer heutigen, mit hohen Anforderungen ausgestatteten Umwelt erscheinen diese Antihelden realistischer als ihre ehrenhaften und ambitionierten Vorgänger; der Leser kann sich leichter mit dem ganz alltäglichen Versager identifizieren als mit einem Überflieger, den es in Zeiten von Arbeits- und Orientierungslosigkeit sowieso kaum mehr gibt.

Die schönsten Antihelden der deutschen Gegenwartsliteratur beschreibt derzeit Hans-Ulrich Treichel. Wie könnte man Albert, den Protagonisten seines letzten Romans "Der irdische Amor" vergessen, der von einer attraktiven römischen Polizistin in aller Öffentlichkeit aufgrund seiner durchaus beachtlichen Erregung als "Cretino" betitelt wird? Auch Georg Zimmer, der schüchterne Doktorand aus Berlin, und der Ich-Erzähler aus Treichels erstem Roman "Der Verlorene", der vom verschollenen Bruder in eine lapidare Nebenrolle gedrängt wird, tragen alles andere als heldenhafte Züge. Und genau das ist das Schöne daran. Treichel versteht es gekonnt, die tragisch-komischen Momente seiner Figuren einzufangen - und das, ohne dabei jemals ins Triviale abzurutschen.

"Menschenflug" heißt Treichels neuester Roman. Und wieder haben wir es mit dieser Sorte Mensch zu tun, einem Eigenbrötler, "nicht auskunftsbereit und offenherzig, [...] ein äußerst verschlossener Mensch. Verschlossen bis verstockt. Er ließ lieber die anderen von sich erzählen. Von ihren Münzsammlungen beispielsweise. Sollten sie sich doch um Kopf und Kragen reden. Er schwieg lieber." Und "wenn es so etwas wie eine Grundregel in seinen Beziehungen zu anderen gegeben hatte, dann hatte sie gelautet: Menschen, die er mochte, mochten ihn nicht. Wobei diese Grundregel noch um eine zweite ergänzt werden konnte: Menschen, die ihn mochten, mochte er nicht [...] Wer nach diesen beiden Regeln lebte, hatte die Garantie, ein rundum unglücklicher Mensch zu sein." Treffender kann man einen Antihelden kaum beschreiben. "Im Grunde sei ihm alles mißlungen, auch seine Kindheit, seine Schulzeit, alles." Zudem übt Stephan, der Protagonist, den undankbaren Job eines Deutschlehrers aus - und das in einer Zeit, in der die deutsche Sprache alles andere als trendy zu sein scheint, wo man "auch ohne Deutschkenntnisse glücklich werden" kann und es sich bei Deutsch als Fremdsprache eher "um eine aussterbende Disziplin" handelt, bei der er "froh sein konnte, dass seine Stelle unkündbar war".

Dieser Stephan, von dem hier die Rede ist, ist aber mehr als einer der vielen Versager Treichels. Stephan ist ein alter Bekannter, wenn man denn den Faden weiterspinnen möchte, den der Autor mit dem "Verlorenen" begonnen hat. Hier wird die Geschichte des Ich-Erzählers weitererzählt: Vierzig Jahre sind seitdem vergangen und der im Krieg auf der Flucht verloren gegangene ältere Bruder ist trotz emsiger Recherchen der mittlerweile verstorbenen Eltern und auch der späteren Geschwister nicht wieder aufgetaucht. Während der Ich-Erzähler in "Der Verlorene" alles daransetzt, seinen Bruder auf keinen Fall zu finden und kennen zu lernen, zeigt Stephan durchaus Bemühungen, wenn er auch immer wieder davon abweicht.

Das Stöbern in der Vergangenheit ist für ihn befremdlich: zu vieles, das unklar erscheint, zu viele Erinnerungen an die strengen Eltern, die in ihm immer nur eine Art Ersatzkind sahen. So macht er sich eher halbherzig auf die Suche nach dem Bruder, dem Findelkind 2307, das die Eltern bereits vierzig Jahre früher als ihr eigen Fleisch und Blut ansahen - ohne Beweise für ihre Vermutung gehabt zu haben. Seine Suche ist jedoch alles andere als zielstrebig - wir haben es ja mit einem Antihelden zu tun, der sich zudem in einer Art Midlifekrise befindet, die er dadurch meistern zu können glaubt, dass er sich eine einjährige Auszeit von seiner Familie nimmt.

Weshalb er diese Auszeit braucht, ist eindeutig: erneut wird er in der Familie in eine Nebenrolle gedrängt: Alles scheint sich um die Frauen des Hauses zu drehen: Da sind zum einen die beiden Stieftöchter, zu denen er kein inniges Verhältnis aufbauen konnte, die ihn anfangs sogar siezen - zum anderen Helen, seine Frau, die ihm oft vorkommt "wie eine Heilige. Aber sie war keine Heilige. Sondern Psychoanalytikerin." Helen ist so unverschämt tolerant, wie man es von einer normalen Ehefrau nicht erwarten kann. Dementsprechend rät sie ihm gar zu dieser Auszeit.

Zudem wird Stephan seit dem Erreichen des fünfzigsten Lebensjahrs von starken Alpträumen geplagt, in denen "er seinen Vater mit drohend erhobener Armprothese im Schlafzimmer neben dem Kleiderschrank stehen sah, oder er schrak mitten in der Nacht hoch, weil das Gesicht seiner Mutter sich über ihn beugte und immer mehr dem seinen näherte". Auf der Flucht vor diesen Träumen verschafft sich Stephan diese einjährige Auszeit vom Familienleben, die allerdings keine Linderung verspricht. Statt zu sich selbst zu finden, findet er auf einer etwas ungewöhnlichen Ägyptenreise zu einer anderen Frau. Doch auch hier zeigt sich Stephans Halbherzigkeit: Er hat nicht den Mumm, die Affäre richtig zu vollziehen und nicht den Elan, sich der Fülle der ägyptischen Sehenswürdigkeiten zu stellen. So erscheint seine Ägyptenreise als eine bloße Spiegelung seines halbherzigen Lebens, als weitere verpasste Chance.

Als Stephan nach Deutschland zurückkehrt, möchte man kaum glauben, dass er dort dann doch etwas hinbekommt: Er trifft in der Tat den Mann, den seine Eltern für ihren verlorenen Sohn gehalten haben - und das trotz der Einwände der Geschwister, die finanzielle Forderungen befürchten. Das Findelkind 2307 heißt Hermann und lebt in Celle, entspricht aber nicht dem, was sich Stephan unter seinem Bruder vorgestellt hat. Hermann ist ein alter verbitterter Mann, der Stephan mit seinem Krückstock bedroht, böse, alt und grimmig. Es kommt zu keinem gemeinsamen Gespräch, und so steht Stephan dort, wo er sich bislang immer wiederfand: Auf dem Boden unliebsamer Tatsachen, dem er endgültig zu entfliehen versucht.

Inwiefern es sich bei "Menschenflug" um den Nachfolger von Treichels Roman "Der Verlorene" handelt, darüber lässt sich sicherlich streiten. Viele Parallelen sind jedoch nicht von der Hand zu weisen. Dennoch unterscheidet sich "Menschenflug" deutlich von seinem Vorgänger: Am Ende des Romans bleibt die Frage nach den Umwegen Stephans, nach dem eigentlichen Sinn der Handlung, der sich letzten Endes aus der Zerrissenheit seiner Person ergibt.

Hans-Ulrich Treichel gelingt es in "Menschenflug" wie auch schon in seinen vorherigen Romanen vortrefflich, das Leben eines Antihelden zu beschreiben. An manchen Stellen erscheint die Handlung jedoch etwas langatmig, weil man das Gefühl hat, das alles schon einmal im "Verlorenen" gelesen zu haben. Während "Der Verlorene" durch den Ich-Stil eine große Intimität im Erzählen erzeugt, bleibt "Menschenflug" in der Er-Perspektive doch immer ein wenig auf Distanz, gerade auch durch die Verirrungen der inzwischen gealterten Ich-Person, die sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit begibt.

Titelbild

Hans-Ulrich Treichel: Menschenflug. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
234 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3518417126

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