Luftholen, Wiederlesen und Innehalten

Jens-Christian Grøndahls "Schweigen im Oktober" ist ein Buch, an dem man festhalten sollte

Von Tobias DennehyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Dennehy

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Szenario ist eigentlich banal, beinahe alltäglich: Eines Tages wacht der Protagonist auf und stellt fest, dass seine Frau, mit der er seit vielen Jahren verheiratet ist, ihn verlassen will. Astrid steht in der Schlafzimmertür, neben ihr gepackte Taschen, in ihrem Blick Entschlossenheit. Sie wartet bis er aufwacht, verkündet ihm gelassen, dass sie geht. Das Warum und Wohin - er vergisst, danach zu fragen, versäumt es, ihr nachzurufen oder sie gar aufzuhalten. Sie ist weg. Die einzigen Hinweise, die ihm über ihre Aufenthaltsorte Auskunft geben, sind die Kontoauszüge ihrer Mastercard.

Grøndahls Erzähler, ein 44-Jähriger Kunsthistoriker, führt den Leser in einem konzentrischen Vor und Zurück und diversen Zeitsprüngen von Vergangenem zu Gegenwärtigem. Achronologisch werden die Seiten vergangener Kapitel aus dem Leben des Ichs aufgeschlagen. Wie in retrospektivischen Romanen üblich wird die Vorgeschichte des Erzählers nachgetragen, die sich im Nachhinein zu einem schlüssigen Strang von Ursache und Wirkung zusammenfügt: Die frühere, durch leidenschaftliche Besessenheit gekennzeichnete Beziehung des Ich zur schönen Inès, die ihn eines Tages fallen lässt. Die nachfolgende verzweifelte Lethargie des Verlassenen, der während des ziellosen Umherfahrens in seiner Heimatstadt Kopenhagen, in der er nebenbei als Taxifahrer arbeitet, eines Nachts zwei Passagiere mitnimmt: Astrid und ihren Sohn Simon, beide aus ihrem Leben mit einem berühmten und treulosen Filmregisseur fliehend. Er bietet den Flüchtlingen für ein paar Tage Obdach, aus den Tagen werden Wochen, Monate, Jahre, aus dem Obdach ein gemeinsames Heim, es folgen eine gemeinsame Tochter und eine langjährige Ehe.

Hier erfährt man auch, wie Astrids zweite Flucht aus der Ehe motiviert ist: Unmittelbar vor einer gemeinsamen Portugal-Reise hat der Kunsthistoriker Amerika bereist und dort nicht nur Recherchen über die New Yorker Schule betrieben, sondern auch ein Praxissemester in Sachen Seitensprung eingeschoben. Genau diese Portugal-Reiseroute ist es, die Astrid nun ein zweites Mal verfolgt und von deren Verlauf sie ihren Mann durch die Spuren der Mastercard unterrichtet.

Grøndahl hat sich und dem Leser einen erbarmungslos und unprätentiös auf die eigene Geschichte zurückblickenden Erzähler erschaffen, dessen entlarvende Sprachgewalt einem zeitweise den Atem zum Weiterlesen nimmt. Viele der erfreulich unpathetischen und unaufdringlichen Metaphern verlangen nach Lesepausen, nach Luftholen und Wiederlesen, nach Innehalten.

Ähnlich geht Grøndahls Erzähler mit seinem Leben um. Bilder der Erinnerung werden in einfühlsamen Standbildern oder Zeitlupenaufnahmen eingefroren. Denn nur so kann er Zweifeln an der eigenen Erinnerung, an Gefühlen, am eigenen Leben Gehör verschaffen. Mit ausschweifend plastischer Sprache und einer brillant präzisen Beobachtungsgabe analysiert er diese Bilder, seziert er die Fotografien seines Gedächtnisses ebenso wie die realen seiner Fotoalben, auf denen er - teils nur als Motiv, teils schon als Mensch - fehlt. Auf wenigen ist er selbst zu sehen und wenn, dann ist es, "als würde ich, indem ich mir selbst in die Augen schaue, einen leeren Raum öffnen, in dem sie [Astrid] bereits verschwunden war".

Titelbild

Jens-Christian Grondahl: Schweigen im Oktober. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999.
328 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3552049401

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