Return of the Dead

Fred Vargas' neuer Krimi "Der vierzehnte Stein"

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das sind Bücher für Romantiker: Da gibt es noch Kollegen, die zu einem stehen, Freunde, die einen aufnehmen in der Not, Brüder, die sich umarmen und niemanden in ihren inneren Kreis lassen. Man liest von älteren Damen, die den Reichen nehmen und den Armen geben (und das im WorldWideWeb), es existieren brüchige aber tief gehende Beziehungen zwischen den Geschlechtern, Kinder, die von ihren Vätern erst lange nach der Geburt entdeckt werden. Und schließlich ein Held, der nicht nachdenkt, Gesten, die anzeigen, wohin man gehört - naja, und dann ist da auch noch ein Mörder, der über seinen Tod hinaus konsequent zu Ende führt, was er vor ein paar Jahrzehnten begonnen hat. So grausam er auch sein mag - ein Mord mit einer Mistgabel ist kein wirklich elegantes Delikt -, er folgt am Ende doch einem romantischen Prinzip, einer Verpflichtung, die er sich selber auferlegt hat und die ihn bindet. Das unterscheidet ihn eigentlich kaum von Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg, der auch nur seinen Obsessionen folgt, die allerdings etwas weniger blutrünstig sind als die der Mörder, die er dingfest macht. Allerdings, dieses Mal soll er sogar selber einer von ihnen sein, was a) der geübte Kriminalleser spätestens dann bermerkt, wenn Monsieur Adamsberg tut, was alle bisherigen angeblichen Täter von Fred Vargas neuem Roman getan haben, und b) sowieso mal wieder nicht sein kann. In diesem wie in anderen Fällen sind auch wir der Meinung, dass die 'Bullen' mal wieder hinter dem Falschen her sind.

Fred Vargas schreibt freundlicherweise Krimis, die von schrulligen Figuren nur so wimmeln. Die drei Kaiser in "Im Schatten des Palazzo Farnese", die drei Historiker-Evangelisten samt Ex-Inspektor Louis Kehlweiler in "Die schöne Diva von Saint-Jacques" und "Der untröstliche Witwer von Montparnasse", der Ausrufer in "Fliehe weit und schnell", ja, auch Kommissar Adamsberg erneut in "Der vierzehnte Stein" - all das sind die wunderschönsten Exemplare von Leuten, die nicht von der Stange sind. Nicht immer schön, selten erfolgreich, keinesfalls reich, aber immer ist etwas Besonderes an ihnen, das sie auszeichnet, das sie hervorhebt und das sie liebenswert macht. Vargas hat in jedem ihrer Bücher so einen Sonderfall, von dem man gern liest. Im "Vierzehnten Stein" ist aber nicht Adamsberg die Überraschung, sondern seine Kollegin Violette Retancourt, die "kräftigste seiner Lieutenants" immerhin. Diese Violette Retancourt gehört zu den Wundertüten, die Vargas gern in ihre Bücher packt und dann zu unserer Freude nach und nach entblättert. Das fängt ganz unscheinbar an, kann aber zu ganz außergewöhnlichen Seitengeschichten und Nebenhelden aufgebaut werden, denen man dann mit großer Freude folgt. Wie sich in diesem Fall eine hässliche dicke Frau als schöne, gelassene, kluge, gerissene und vor allem unglaublich sturköpfige Person entpuppt, an deren Kaltblütigkeit und Treue das Schicksal Adamsbergs hängt, das ist ein angenehmes Kapitel Literatur.

Seit dem Erscheinen von Grimms Märchen lesen Romantiker 'Kriminalromane' (sehr empfehlenswert ist übrigens 'Früh-Splatter' "Die zwei Brüder"). Sowieso ist im Untergeschoss von Gesellschaft, Kultur und Subjekt derart viel los, dass daraus immer wieder die schönsten Geschichten gemacht werden können, in denen dunkle Gestalten ihren undurchsichtigen Geschäften nachgehen. Von beiden ist im hell erleuchteten Obergeschoss der Vernunft wenig bekannt. So werde denn Bewusstsein aus dem Unbewussten, aus Es werde Ich. Nebenbei werden mit den selbst gemachten Monstren auch noch die der Gesellschaft niedergerungen. Wenn es die Psychoanalyse nicht gäbe, das Kriminalgenre müsste sie erfinden oder wenigstens etwas Ähnliches. Denn die Begegnung mit der anderen, der bösen Seite der Gesellschaft ist immer auch und besonders eine mit der anderen Seite des detektivischen Selbst. Und das füllt nicht nur die Seiten, sondern löst auch eine Menge Selbstgewissheiten auf, die jeder Einzelne möglicherweise mit sich herumschleppen mag, der Sicherheit halber.

Aber ist bis jetzt irgendjemand irgendetwas Besonderes aufgefallen an diesen Büchern, von denen hier die Rede ist? Wohl kaum. Denn auch wenn Vargas Fälle um Wolfsmenschen, blaue Kreise, gepflanzte Bäume, Pestprophezeiungen und andere Absurditäten kreiert und dieses Mal sogar einen echten toten Täter hat, der auch sechzehn Jahre nach seiner Grablegung noch sein Unwesen treibt, ist das an ihren Fällen nicht das wirklich Besondere. Wenigstens wäre das auch nicht wichtig. Denn Vargas folgt einem Trend in der Krimiliteratur, der weniger das originelle Verbrechen als den originellen Verbrecher und seinen Fahnder in den Vordergrund stellt, oder sagen wir besser: beide in ihrer natürlichen Lebenswelt präsentiert. Eine Art Alltagsethnographie à la Donna Leon steht hier ebenso auf dem Programm wie die Modernekritik, mit der ein Henning Mankell seine Kundschaft unterhält. Aber während Leons Krimis - bei aller Sympathie - mittlerweile doch ihren Kick verlieren und Mankell seinen schwedischen Kulturpessimismus arg dick aufträgt, behält Vargas immer noch, auch nach den sieben Büchern, die sie bis jetzt bei Aufbau herausbrachte, ihren besonderen anarchischen Charme.

Ein so souveränes und unpeinliches Changieren zwischen den Fronten, die Sympathie mit den Unterlegenen und Schwachen und ihren Techniken, sich doch irgendwie doch das zu beschaffen, was ihnen zusteht, hat man mit viel Glück in den Siebzigern lesen können. Bei Peter-Paul Zahl zum Beispiel (dessen Krimis allerdings an "Die Glücklichen" nicht heranreichen - keine Ahnung, ob selbst das noch heute lesbar wäre). Aber nun gibt es eben eine französische Autorin, die sich Fred Vargas nennt, und wir haben das erste Jahrzehnt im 21. Jahrhundert. Und so als ob die Postmoderne eine neue Volte schlüge, schreibt so jemand wie Fred Vargas ein angenehmes Buch nach dem anderen. Sie kombiniert fleißig, was es an Traditionen und Materialien gibt, und unterläuft fröhlich jeden Überbietungszwang, der dem Genre leider eben auch zu eigen ist. Selbst dass sie Bücher schreibt, die einem Trend folgen, ist ihr nicht anzukreiden. Eher im Gegenteil, weil sie das nämlich mit großem Witz und, ja, mit Eleganz tut. Damit erschreibt sie ihrem Land die bestmögliche Referenz, die man sich als Kriminalromanleser denken kann. Man möchte sie allenfalls dafür tadeln, dass sie erst sei ein paar Jahren auf dem deutschen Markt aufgetaucht ist und nicht noch mehr von ihren Büchern geschrieben hat. Krimileser haben nämlich ein unangenehmes Leiden, sie sind unersättlich. Kaum haben sie einen Autor entdeckt, räubern sie ihn aus, und wenn Sie damit fertig sind, wissen sie wieder einmal nicht, wo weiter machen. Zum Glück wächst das Krimi-Universum ungefähr genau so schnell wie das Universum überhaupt. Was würde man sonst auch anfangen mit den schlaflosen Nächten? Wie würde man sie schlaflos machen?

Titelbild

Fred Vargas: Der vierzehnte Stein. Roman.
Aus dem Französischen von Julia Schoch.
Aufbau Verlag, Berlin 2005.
479 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3351030304

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