Ein genuin moderner Autor

Wolfgang Matz bringt das Werk Adalbert Stifters auf den Begriff

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zehn Jahre nach der Maßstäbe setzenden Arbeit "Adalbert Stifter oder diese fürchterliche Wendung der Dinge. Biographie" legt der gebürtige Berliner Wolfgang Matz einen Essay vor, der nicht das Leben, sondern das Werk des Dichters aus Oberplan in das Zentrum der Betrachtung stellt. Wie bereits Arnold Stadler in seinem faszinierenden Beitrag zum 200. Geburtstag Stifters, "Mein Stifter", gezeigt hat, handelt es sich bei dem von Arno Schmidt als "sanfter Unmensch" kritisierten Schriftsteller um einen Autor, der bis heute von seinen schreibenden Kollegen und Kolleginnen ungewöhnlich stark beachtet wird und wie nebenbei die Geister scheidet. Heftige Abneigung (etwa bei Arno Schmidt und Thomas Bernhard) und Bewunderung (Stadler) werden dem Autor der Biedermeierzeit entgegengebracht.

In zehn Abschnitten, jeweils mit einem Nomen ("Dingwelt", "Naturverfallenheit", "Nichtsein", "Ordnung", "Tradition", "Schuld", "Riß", "Schweigen", "Reue", "Form") überschrieben, macht Wolfgang Matz indirekt verständlich, worin die divergierende Einschätzung im Werk Stifters selbst begründet sein könnte. Sie liegt in dem von jeder theoretischen Reflexion weit entfernten Dichtertum Stifters, das sich als Unsicherheit, oder, wie es bei Matz mehrfach benannt wird, in einem "Schwanken zwischen dem unverständlichen Menschenleben und dem Wunsch nach metaphysischer Sicherheit" ausdrückt. Wer dieses Schwanken nicht wahrnimmt, nur Belege für die in der Moderne unmöglich gewordene Sicherheit findet, muss Stifter als hoffnungslos Überholten, reaktionären Langweiler lesen.

Der Aufsatz von Wolfgang Matz, ungemein konzentriert und sprachlich konkret, bringt auf den Punkt, was viele Stifter-Leser vielleicht immer schon geahnt haben. Die Argumentation ist philosophisch und gut lesbar. Aha-Erlebnisse sind vorprogrammiert. Da wird etwa gezeigt, wie die "idealistisch geschlossene Konstruktion des Lebens" bei Stifter zerbricht, und sich damit der Wandel vom idealistischen Drama, von der Tragödie zur Erzählung, in der der blinde Zufall, die Kontingenz des Lebens bestimmend ist, vollzieht. Am Ende steht dann die "Sehnsucht nach dem Verschwinden", die Besitz ergreift "nicht nur von der Diktion des Autors, sondern auch von der Person Stifter".

Kaum eine Schul-Literaturgeschichte, in der nicht auf Stifters berühmte Vorrede zu "Bunte Steine" eingegangen wird. Wie oft wird nicht den Schülern Stifters Vorliebe für das Kleine romantisierend nahe gebracht. Matz hat seinem Abschnitt über Stifters "Sanftes Gesetz" die Überschrift "Riß" gegeben und zeigt darin: "Stifter ist der erste Erzähler, der imstande ist, Menschliches und Nichtmenschliches auf gleichem Range zu behandeln". Er ist damit ein Autor, der im Lichte der gegenwärtigen Biologie ungemein aktuell ist. Freilich bleibt der "Riß", denn es gibt nur eine Möglichkeit, die zerstörerische Natur nicht mehr als solche zu empfinden,; das restlose Aufgeben der menschlichen Perspektive, das auch Stifter nicht gelingt.

Matz verschweigt nicht, dass der schwankende Stifter auch Reaktionäres überliefert, was gerade an seinem Umgang mit der Tradition sichtbar wird. Er ist dort reaktionär, wo er auf einer Tradition beharrt, die ihm selbst nichts mehr zu sagen hat. Als genuin modern erweist er sich aber in seinem Gestaltungsprinzip, in dem "das Wesentliche des Gehaltes seinen Ausdruck nicht mehr im manifesten Vordergrund des Erzählten, vielmehr in den konstruktiven Konfigurationen des Sprachlichen findet".

Wolfgang Matz analysiert in "Gewalt des Gewordenen" zentrale Motive im Werk Adalbert Stifters und lässt, wie er auch in der abschließenden "Notiz" bemerkt, chronologische, werkgeschichtliche Überlegungen weitgehend unberücksichtigt. Der ausgewiesene Kenner hält für seine Thesen überzeugende Belege bereit, die am Ende seitenweise nachgewiesen werden, im Text selbst aber ohne Fußnoten bleiben. Das ist gut für die Lesbarkeit, erschwert aber andererseits das Auffinden der entsprechenden Stellen. Jedenfalls ist der Essay auch für einen im Werk Stifters nicht so gut orientierten Leser mit großem Gewinn zu lesen.

Titelbild

Wolfgang Matz: Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters.
Literaturverlag Droschl, Graz 2005.
101 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3854206917

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