Recycling für Fortgeschrittene

Wozu die Aufklärung heute noch gut ist

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neil Postman, heute Professor für Medienökologie an der New Yorker University in Manhatten, versteht sich selbst mit seinem Buch "Die zweite Aufklärung - vom 18. ins 21. Jahrhundert" als Aufklärer der besonderen Art: Er möchte die Ideen des Zeitalters der sogenannten Aufklärung des 18. Jahrhunderts als Quelle für dringend benötigte Antworten für heutige Probleme nutzen. Oder anders gesagt: mit der Aufklärung aufklären.

Aufgrund des Milleniums befinden sich viele Menschen in offensichtlicher Verwirrung: Sie wissen nicht, woran sie glauben sollen, sie erkennen keine Ordnung mehr in dieser Welt. Der Schluß liegt nahe, zu resignieren, weil es die gesuchte Ordnung tatsächlich nicht zu geben scheint: Im Pluralismus der heutigen Zeit wird zwar jeder und jedem die Freiheit gegeben, sich die eigenen Götter zu suchen, aber der Mensch wird dabei allein gelassen. Postman beklagt den Verlust einer großen Erzählung, einer Geschichte, in der man sich wiederfinden kann. Deshalb versucht er im Folgenden, diesen Verlust durch eine ständige Bezugnahme zum Zeitalter der Aufklärung exemplarisch auszugleichen.

Postman befasst sich dabei als erstes mit der "Entstehung" des Fortschritts in der Aufklärung: Auf der einen Seite will er zeigen, dass zwar auch zu jener Zeit nicht alles perfekt war; auf der anderen Seite läßt sich aber nicht leugnen, dass dort die großen Ideen geboren wurden, wie die Idee der Kindheit, die Abschaffung der Sklaverei, die Erfindung der Dampfmaschine und so weiter. All dies läßt sich unter der "Theorie des Fortschritts" subsumieren, das heißt, dass die Geschichte zu verstehen ist als eine Vorwärtsbewegung in einer erstrebten Richtung, ein Fortschreiten auf das Gute hin.

Das Besondere dieser Auffassung der sogenannten Aufklärer besteht auf der anderen Seite immer wieder darin, das Erreichte oder Beabsichtigte in Bezug auf mögliche Konsequenzen in Frage zu stellen, und damit einer umsichtigen Prüfung zu unterziehen. Dieser Umgang mit Fortschritt ist für Postman vorbildlich und notwendig für das 21. Jahrhundert: "Es gibt keinen einzigen Philosophen, der bestreiten würde, daß die Technologie eine Bereicherung oder auch eine Entwertung des Lebens bedeuten kann. Der gesunde Menschenverstand verlangt, daß wir die Frage stellen, welches von beidem zutrifft. Nur ein Dummkopf würde unbekümmert jede neue Technik willkommen heißen".

Desweiteren übt Postman radikal, aber oberflächlich, Kritik am heutigen Sprachgebrauch der meisten postmodernen Philosophierenden: Seiner Meinung nach ist die Ansicht, dass Sprache ein Konstrukt, eine Illusion oder eine Verdunkelung der Realität ist, eine psychologisch zu interpretierende Konsequenz auf Enttäuschungen des 20. Jahrhunderts. Oder - einfach gesagt - Unsinn, den es bei den Autoren der Aufklärung nicht gab. Denn diese glaubten, "daß es möglich ist, zu sagen, was man meint, zu meinen, was man sagt, und zu schweigen, wenn man nichts zu sagen hat."

Es kommt nach Postman nur darauf an, Information nicht mit Wissen zu verwechseln. Postman behauptet, dass nur das Wissen (das heißt Information, dargestellt im Zusammenhang von Bedingungen und Konsequenzen) von Nutzen für die Menschen ist. Daher kommt wohl auch seine erklärte Abneigung gegen die neuen Medien, wie das Internet, das die Menschheit nur mit Informationen überhäuft. Die Frage, die man sich heute stellen muss, ist, wie man diese Informationsfülle in Wissen, und dieses Wissen in Erkenntnis umwandeln kann. Dabei wird es auf jeden Fall helfen, alle scheinbar "absoluten" Fakten in eine Geschichte (Erzählung) einzuordnen und anzuerkennen, dass alle Wertung von den Menschen ausgeht: Einzig die Menschen bestimmen, was gut oder schlecht ist und war. Und dieser Aufgabe können sie nur adäquat nachkommen, wenn sie wissen, worum es geht.

Wissen, nicht Information, muß also von Generation zu Generation weitergetragen und fortgeführt werden. Dabei bleibt zu überlegen, ob dieser Anspruch heutzutage überhaupt realisiert wird, was tatsächlich von den Kindern erwartet wird: Die Idee der Kindheit, in der die Kinder nicht mehr als Erziehungsobjekte, die für einen bestimmten Zweck ausgebildet werden, sondern als Subjekte gelten, entstand in der Aufklärung. Es scheint nach Postman aber so zu sein, dass die Kinder in unserer Zeit nur Informationen anhäufen sollen und ansonsten nur als Kaufkraft gesehen werden. Sie erhalten kaum Aufmerksamkeit um ihrer selbst willen, sondern nur in Bezug auf fremde Zwecke (wie das Heranzüchten einer Elite), die mit der Idee der Kindheit nichts mehr zu tun haben.

Ein weitere Aspekt, den Postman bei seinen Überlegungen ins Spiel bringt, ist der Egoismus in Bezug auf die Demokratie. Postman befürchtet, dass mit der Ausbreitung der elektronischen Medien eine Vereinsamung der Menschen einhergeht. Im Anschluß an Tocqueville definiert er den Egoismus als Bedürfnis der Bürger, von der Gesellschaft Abstand zu nehmen, nachdem der eigene Bedarf gedeckt worden ist, und folgert daraus: "Egoismus ist also ein übersteigerter und folglich häßlicher Individualismus, dem Gemeinschaftsempfinden und Zusammengehörigkeitsgefühl fremd" sind. Wenn nun jegliche Kommunikation und Bedürfnisbefriedigung per Mouseclick funktioniert, und somit die tatsächliche Anwesenheit anderer Menschen überflüssig ist, wird die Demokratie in Frage gestellt und gefährdet, da sie auf dem Gemeinschaftsempfinden beruht.

Deshalb schließt Postman seine Betrachtungen über die gegenwärtigen Probleme mit einem, wie er es nennt, "Vermächtnis" der Aufklärung für die (schulische) Erziehung, die man als Saat der Zukunft bezeichnen könnte: Nur gebildete, also aufgeklärte Menschen besitzen die nötige Skepsis ("kritisches Denken"), die zu einem adäquaten Verständnis der Welt nötig ist. Es mangelt aber noch an der Bereitschaft, die Kinder zum kritischen Denken zu ermuntern, aus Angst, die geltenden Autoritäten und damit verbundene Sicherheiten in Frage zu stellen und schließlich das bestehende System zu gefährden. Und selbst wenn die Skepsis von den Pädagogen als ein erstrebenswertes Gut angesehen wird, fehlt es noch an der Fähigkeit, dieses Denken angemessen zu vermitteln: Wie kann man das In-Frage-Stellen lehren, an einem Ort, wo es sonst nur um Antworten geht? Das würde bedeuten, ein Pulverfaß zu bauen, mit dem man selbst gesprengt werden kann.

Postman will dieses Vorhaben dennoch und anhand von konkreten Vorschlägen in die Tat umsetzen: Er fordert, dass jedes Fach mit der dazugehörigen Geschichte gelehrt werden soll, oder dass den Kindern beigebracht werden muss, die Technologie zu nutzen, anstatt von ihr benutzt zu werden.

Es ist alles nicht besonders neu oder revolutionär, was Postman darstellt, kritisiert und zu verbessern fordert. Man sollte jedoch im Auge behalten, dass dies auch nicht Postmans Anspruch ist. Es geht ihm vielmehr darum, zu betrachten, was wir schon haben und besser wieder nutzen sollten: Insofern unternimmt Postman nur einen unspektakulären Versuch, die Aufklärung zu recyceln.

Titelbild

Neil Postman: Die zweite Aufklärung. Vom 18. zum 21. Jahrhundert.
Berlin Verlag, Berlin 1999.
224 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3827001714

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