Und wenn sie nicht gestorben sind...

Ulrich Enzensberger erzählt das Märchen von der Kommune 1

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

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Ja, für was alles werden sie heute verantwortlich gemacht? Für den Verfall der Sitten, für die rot-grüne Ex-Regierung, für die niedrige Geburtenrate, für die Entstehung der RAF und deren abscheuliche Gewalt: Die 68er und ihre Außerparlamentarische Opposition bewegen auch nach fast vierzig Jahren immer noch die Gemüter, selbst dann, wenn sie ohne Zweifel selbst ganz anders aussehen würden, hätte es sie nicht gegeben. Die APO ist an allem schuld (naja, an vielem zumindest), und mitten drin gilt es einem kleinen Haufen ungewaschener, langhaariger Bombenleger, die sich mit kommunalem Gruppensex, Drogen und gewalttätigen Demos die Zeit vertreiben, um - nicht zu vergessen - unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung umzustürzen: Die Kommune I.

Ist das nicht schön? Ist das nicht bemerkenswert und erstaunlich? So etwas wie die Ur-WG der Bundesrepublik - wer weiß heute noch, wie WGs funktionieren? - wird beschuldigt, eine der großen westlichen Industriegesellschaften umstürzen zu wollen, vielleicht gar zu können? Ulrich Enzensberger, der kleine Bruder des großen Hans-Magnus, erzählt hier seine Geschichte der Kommune I, zu deren Gründungsmitgliedern er gehört. Eine kleine Geschichte, ganz harmlos daherkommend, nicht ganz so harmlos endend, aber mit vielen aufregenden Episoden und Einsichten.

Die freie Gesellschaft im Experiment? Ach wo. Eine frühe terroristische Vereinigung? Sowieso nicht. Statt dessen ein Häuflein junger Männer und Frauen, die ein ganz schmales Absprungbrett brauchten, ein paar Songs, ein paar verrückte Ideen, einen geeigneten Resonanzboden, um auf einen fulminanten politischen Trip zu gehen, von dem sie nie wirklich gewusst haben, wohin er sie führt. Eine Reise, die mit dem Tod Benno Ohnesorgs zur Schussfahrt in eine andere Republik werden sollte.

Erstaunlich ist daran nicht, dass es so etwas wie die Kommune I gegeben hat, dass sie provozierende Flugblätter und Happenings wieder erfand, dass sie die formierte Gesellschaft eines Ludwig Ehrhard radikal attackierte, in der Etikette und Anstand so viel bedeuteten nach den Exzessen der NS-Zeit. Erstaunlich ist, mit wie geringen Mitteln sie es fertig brachte, dass diese gute Gesellschaft ihre Fassung verlor. Ein FU-internes Flugblatt, in dem Studenten aufgefordert werden, sich nicht zu Fachidioten ausbilden zu lassen, empört Professoren. Flugblätter, die die Berichterstattung der Springerpresse über einen Brüsseler Kaufhausbrand aufnehmen, von "neuen Demonstrationsformen" sprechen und in der Frage enden: "Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?" führen zum Eklat, zu einem hysterischen Medienecho und zum Prozess. Es reichen ein paar Flugblätter, einige Aktionen, ein paar Sprüche, schließlich eine WG, die sich hochtrabend den Namen Kommune I gibt, lauthalse Überlegungen zu Revolution und sozialistischer Gesellschaft, und Deutschland steht am Abgrund? Man mag das nicht wirklich glauben, aber trotzdem ist es wohl so geschehen.

Die Geschichte der Kommune I, so Enzensberger, beginnt mit der Großen Koalition 1966 und sie endet mit ihr 1969. Immerhin also knapp drei Jahre Geschichte, deren Entwicklung aber unglaublich ist, unglaublich schnell, radikal und unerwartet. Angefangen hat dieser Teil der neueren bundesdeutschen Geschichte bei einem Protest gegen einen Afrika-Film und ein paar universitätsinternen Querelen Ende 1966, aber schon bei den Protesten beim Schah-Besuch im Juni 1967 ist eine Eskalationsstufe erreicht, die kaum noch eine Möglichkeit zur Besinnung lässt. Schließlich das Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968, mit dem eine der Schlüsselfiguren der APO aus dem Verkehr gezogen wird. Innerhalb eines guten Jahres ist die Republik so in Aufruhr versetzt, dass Taxifahrer Studenten und andere hetzen, weil sie lange Haare haben. Wegen ein paar junger Leute, die gegen die guten Sitten verstoßen? Wir reden nicht von Geschmack oder von Verantwortung. Beides ist wohl der Kommune I nicht wirklich zuzusprechen. Aber wie zerbrechlich muss diese Gesellschaft gewesen sein, damit diese kleinen Aktionen eine solche Wirkung hatten? Wie war das möglich?

Vom Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz stammt der Satz, man müsse diesen Leuten nur ins Gesicht sehen, um zu erkennen, um was es ihnen gehe, um die Zerstörung, um das Chaos eben. Schaut man sich die Fotos an, die Enzensberger seinem Band beigibt, dann sieht man vor allem am Anfang noch konventionell gekleidete junge Leute. Erst nach und nach lassen sie die Haare wachsen und kleiden sie sich neu ein, bis sie dann endlich irgendwann mal dem heutigen Bild der 68er gleichen: Junge Kerls mit Matte und weichen Gesichtszügen, nachlässig gekleidet auf Matratzen liegend und einen Joint rauchend.

Das ist Teil der Studentenrevolte? Das ist die Vorgeschichte zur RAF? Chronologisch gesehen ja, daran besteht kein Zweifel. Auch die Kommune I werkelte an (Rauch-)Bomben herum, Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin tauchten irgendwann in Enzensbergers Geschichte auf, die erste große Aktion der RAF-Gründer sind dann zwei Kaufhausbrände in Frankfurt. Aber wie so oft sind die Entwicklungen und Ableitungen nicht zwingend. Enzensberger selber landet später bei der KPD/ML, einer der vielen linken Splittergruppen der siebziger Jahre. Man wünscht ihm, dass ihm das erspart geblieben wäre. Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel sorgen auch in den folgenden Jahren immer wieder für Unruhe. Aber die Republik hat im Wesentlichen andere Sorgen.

Dafür sind sie nicht gestorben, sondern leben noch heute, Fritz Teufel, Volker Gebbert, Dagmar Seehuber, Dagrun E. Kristensen, Hans-Joachim Hameister, Rainer Langhans, Dorothea Ridder, Dieter Kunzelmann, Karl Pawla und Antje Krüger. Sechzigjährige sind sie heute, die von der Sozialhilfe, ihren Jobs oder der Rente leben, die schreiben oder ihre Enkel hüten, und die für einen kurzen Moment, kurze zwei, drei Jahre mithalfen, die Republik auf den Kopf zu stellen, an den Rand zu bringen, zu modernisieren, zu kritisieren und in Bewegung zu versetzen. Ohne sie - ja auch ohne sie wäre dieses Deutschland nicht das, was es heute ist.

Wir würden vielleicht trotzdem die Beatles kennen, Freejazz gehört haben, hohe Scheidungsraten oder Beziehungen ohne Trauschein bemängeln oder Beziehungen ohne Trauschein, und, ganz wichtig, Jeans tragen (die bis heute in den meisten Golf-Clubs verboten sind, warum nur?) - das ist anderen Kulturen auch so gegangen. Wir hätten vielleicht trotzdem die RAF, Privat- und Unterschichtfernsehen, dieselben Außen- und Innenminister in den vergangenen Jahren gehabt. Trotzdem hätte das alles einen anderen Ton, eine andere Färbung, wäre das etwas anderes.

Darf man sie bewundern? Darf man sie belächeln? Selbstverständlich haben sie nicht die Welt bewegt, aber sie haben den allzu behaglichen und starren Kosmos der Restaurationsjahre mitgesprengt, sie haben einen Prozess mit betrieben und geprägt, der bereits begonnen hatte und der sich - wie in anderen Ländern auch - auch ohne diese konkreten Personen durchgesetzt hätte. Aber sie haben dem Ganzen eine besondere Prägung gegeben: "Der Teufel ist los", "Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren", "Wenn es der Wahrheitsfindung dient".

Was wäre die Republik ohne solche Sätze, die gebildet, gefunden, gesagt werden mussten? Und was wäre sie ohne solche wie "Burn, warehouse, burn"? Eine dämliche Frage, zugegeben. 68 geht in Rente und darf von den großen Zeiten erzählen, als alles irgendwie auf Neuanfang stand. Schöne Geschichten, aber Geschichte.

Titelbild

Ulrich Enzensberger: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967 - 1969.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004.
415 Seiten,
ISBN-10: 3462034138

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