Ein rundherum feiner Kerl

Maria Tschechowa will ihren Bruder Anton feiern - und schreibt sich um Kopf und Kragen

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam die Moderne endlich ins Rollen: Gerhart Hauptmann stocherte in den Seelenzuständen der kleinen Leute herum, in Charles Dickens' Sozialmärchen stolperten Waisenkinder durch die nasskalte Jetztzeit, und Frankreichs Romanciers - Hugo, Flaubert und sidekick Maupassant - jagten das Wahre, Gute, Schöne zum Teufel, stellten den Jedermann aufs Podest und stießen ihn dann genüsslich wieder hinunter. "Helden- und Glücksverbot" nannte sich der Spaß, und noch heute hat er die Hochkultur fest im Griff: Tränen, Rotz und Mittelmaß allüberall; Entfremdung, Verstörung, Zersetzung, wohin man liest - god's in his heaven, nothing's right with the world. Finden wir das gut? Kommt auf die Ausführung an: Moderne, das geht spritzig, spannend, fabulierfreudig (Kafka, Mann, Hemingway), aber auch so trocken-didaktisch-knackedoof wie hartes Brot mit lustfeindlicher Pathos-Schmiere obendrauf: siehe Döblin, Camus, Bernhard.

Anton Tschechow ist einer von den Guten. Er hat das Theater ins 20. Jahrhundert hinübergerettet, mit respektlosen Stücken, die zwischen Komödie und Tragödie, Zynismus und einem unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen changierten. Dass Perlen wie "Iwanow" nach heutigen Maßstäben eher harmlos wirken, liegt daran, dass Tschechows Prinzipien von der modernen Dramaturgie derart perfekt assimiliert wurden, dass sie - von Vinterbergs Kamerageruckel "Das Fest" bis zum Krankenhausklamauk "Scrubs" - praktisch die Basis für alles darstellen, was Darsteller heutzutage so alles darstellen. Tschechow, das ist der common sense hinter den Texten der Gegenwart. Kantige Figuren, die nur sich selbst sehen und nicht verstanden werden. Gespräche, die sich als Monologe enttarnen. Und viele kleine Pausen, hinter denen sich das Unausgesprochene, das Unaussprechliche versteckt hält.

Die Zeitgenossen freilich sahen das anders: Tschechows Künstlerstück "Die Möwe" fiel in St. Petersburg durch, selbst Urgestein Tolstoj konnte mit den haspelig vorgetragenen Kollektivneurosen nicht viel anfangen. Tschechow, geboren 1860, konterte: Er glaube nicht, dass es seine Aufgabe als Künstler sei, alles und jedes mit einem kleinen Schildchen zu versehen. "Dies ist keine Melone, sondern eine Pflaume!" - so arbeiten Volkserzieher und -verhetzer. Tschechow dagegen vertraute auf die Intelligenz seines Publikums. Und schuf faszinierend ambivalente Stücke. Weil auf diese Weise jedoch etliche Fragen unbeantwortet bleiben müssen und der Großmeister selbst bereits 1904 an Tuberkulose starb, machte sich seine Schwester Maria fünfzig Jahre später ans Aufräumen: "Mein Bruder Anton Tschechow", das sind keine Memoiren. Sondern eine Auflistung der Pflaumen und Melonen im Leben und Werk des Schriftstellers. Jene Fragen, die Tschechow aus gutem Grund unbeantwortet ließ - seine Schwester versucht sich an den Antworten.

Maria Tschechowa ist drei Jahre jünger als Anton. Nachdem der Vater, befreiter Leibeigener und Kontorist, Konkurs anmelden musste, schlägt sich die Großfamilie in der Provinz durch. Um die entbehrungsreiche Kindheit abzuhandeln, genügen Maria Tschechowa jedoch die ersten zwanzig Seiten - obwohl an allen Ecken und Enden psychologischer Zündstoff schwelt: Anton schrieb später, er habe "keine Kindheit gehabt", was Maria zusammen mit dem Jähzorn des Vaters und der Alkoholsucht des älteren Bruders Alexander in wenigen Zeilen abtut. Ebenso unvermittelt kommt die plötzliche Apotheose Antons zum Hauptversorger und heimlichem Oberhaupt der Familie. Besonders am Anfang verheddert sich Maria Tschechowa in unkonkrete, überstürzte und von Floskeln überladene Allgemeinplätze: Was genau damals in der Familie vorgefallen ist, wie der Medizinstudent Anton plötzlich den Vater ablösen kann, und in welchem Rahmen sich die Armut des Tschechow-Clans eigentlich bewegt, bleibt vollkommen unklar. "Das schwere Leben tat seine Wirkung: Aus dem kleinen, verwöhnten Mädchen wurde eine selbstständige Hausfrau", drückt Tschechowa auf die Tränendrüse, um wenige Zeilen pappsüße Allgemeinplätzchen zu servieren: "Aber dann lachte mir das Glück."

Tschechow veröffentlicht erste Novellen, die Familie bezieht eine Stadtwohnung in Moskau, Maria lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Die Geschwister bleiben fast ihr ganzes Leben lang unter einem Dach, Tschechowa schildert Sommerfrischen in Charkov, Antons Arzttätigkeit, die er bis zu seiner Erkrankung nebenher ausübt, erste Achtungserfolge innerhalb der russischen Intelligenzija. Besonders wichtig ist es ihr, die Haupttugenden ihres Bruders in den Mittelpunkt zu rücken: seinen Humor, seine Nächstenliebe, und den Pragmatismus, fernab von Künstlerallüren. Stark wird das Buch an den Stellen, an denen Tschechowa einfach nur erzählt: Von der dreisten Manguste, die Anton auf der Rückreise aus Sachalin als Haustier mitbrachte. Von den Alltagsspäßen, den kleinen Details, die ihren Weg in die Theaterstücke gefunden haben. Oder von Tschechows verschrobenem Humor: "Fünfmal am Tag ging Anton aus dem Haus und warf Schnee in den See, damit er im Sommer mehr Wasser hatte".

Über zwanzig Jahre lang nimmt Maria die Rolle einer Gastgeberin, Sekretärin, Hausverwalterin ein. Sie hält Anton den Rücken frei und sorgt dafür, dass er ungestört arbeiten kann. Das Buch ist eine direkte Konsequenz dieser Beschützerrolle, setzt jene gar bis in die Gegenwart fort, indem Maria unablässig die Handlungen ihres Bruders rechtfertigen und erklären will. Wieso die Schauspielerin Lidia Awilowa öffentlich verkündet habe, Tschechow würde sie lieben, kann sich Maria nicht erklären, Sätze wie "Wenn du irgendwann einmal mein Leben brauchst, dann komm und nimm es dir" waren in ihren Augen ganz und gar harmlos dahingesagt. Auch die Freundschaft zum reaktionären Verleger Suworin wird ins rechte Licht gerückt, und Alexander Tschechows kritische Autobiografie als gutmütiges Gebrabbel des Alki-Bruders abgestempelt. Maria Tschechowa verwendet einen Großteil ihrer Energie darauf, Melonen von Pflaumen zu unterscheiden.

Richtig glauben kann man ihr das alles nicht. Zu verhuscht werden emotionale Bruchstellen wieder und wieder konsequent ausgeblendet. Zum Beispiel, als Maria auf eine Ehe verzichtet, um ihrem Bruder weiterhin eine Stütze sein zu können - und dieser wenige Jahre darauf die Schauspielerin Olga Knipper heiratet. Tschechows Liebesleben wird marginalisiert, weggeschoben, so gut es eben geht. Und wundersamerweise verhalten sich alle Menschen ausgesprochen obrigkeitsskeptisch, rebellisch regelrecht: "Ende November kam überraschend der Moskauer Generalgouverneur, Großfürst Sergej Romanow, in die Vorstellung. Stanislawski schickte nach mir, ich solle schnell ins Theater kommen und mich 'Seiner Hoheit' vorstellen. Das amüsierte mich: Warum sollte ich mich der 'Hoheit' vorstellen?!? Nur weil ich die Schwester des Autors war? Ich ging natürlich nicht ins Theater."

Natürlich nicht. An dieser Stelle wäre vielleicht erwähnenswert, dass Maria Tschechowas Memoiren erstmals 1960 erschienen, im "Staatsverlag für schöngeistige Literatur, Moskau", was zu weiteren irritierenden Perspektivenverschiebungen führt. Dass die Oktoberrevolution dem intellektuellen Leben Russlands regelrecht den Garaus machte, lässt Tschechowa zum Beispiel völlig unter den Tisch fallen, die Karrieren von Exilschriftstellern wie Bunin werden als großes Scheitern geschildert: "Traurig endeten die Tage dieses talentierten Mannes, der seine Heimat liebte, sich aber von einigen seiner alten Ansichten nicht lösen konnte. Er starb 1953 mit dreiundachtzig Jahren in der Fremde." Das ist nichts anderes als eine große Portion Gift und Galle, missmutig über den Eisernen Vorhang hinweggerotzt. Und es macht deutlich, dass die deutsche Ausgabe dringendst ein vernünftiges Vorwort bräuchte, das den Text in die politischen und kulturhistorischen Zusammenhänge setzt. Dass der Kindler Verlag auf jedwede Erläuterung verzichtet, ist kein banaler Lapsus, sondern peinlich, traurig, irritierend, gefährlich und dumm. Mindestens.

Maria Tschechowa starb 1957, drei Jahre vor Erscheinen der Originalausgabe. Sie hat ein faszinierend schlechtes Buch hinterlassen, das an allen Ecken und Enden holpert und klappert. In seiner blinden Verklärung erinnert es an Céleste Albarets Erinnerungen an ihre Zeit als Prousts Haushälterin. In seiner Sprache, seinen Lücken, der ganzen großspurigen (staatlich hineinlektorierten?) Attitüde jedoch erinnert es vor allem an die Rollenprosa Tschechows: die Vorlage von Olga Prosorow, der herzensguten, überarbeiteten Volksschullehrerin und alten Jungfer aus den "Drei Schwestern", erzählt von Moskau & everything after. Eine kantige Figur, die nur sich selbst sieht und nicht verstanden wird. Ein Dialog mit dem toten Bruder, der sich als Monolog enttarnt. Und viele kleine Pausen, hinter denen sich das Unausgesprochene, das Unaussprechliche versteckt hält. Keine schlechte Sache, diese Moderne!


Titelbild

Maria Tschechowa: Mein Bruder Anton Tschechow.
Übersetzt aus dem Russischen von Antje Leetz.
Kindler Verlag, Berlin 2004.
287 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 346340446X

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