Die nachzustotternde Welt

Jin-Sok Chong untersucht "Möglichkeit[en] des Schreibens nach Auschwitz"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Paris der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat eine ganze Reihe deutscher Künstler angezogen, und einige von ihnen kamen Paul Celan mehr oder weniger nahe. So auch Günter Grass, der zwischen 1956 und 1960 in Paris wohnte und an seiner Danziger Trilogie schrieb. Grass hat Celan aus großem zeitlichen Abstand in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung von 1990, "Schreiben nach Auschwitz", einen "schwierigen, kaum zugänglichen Freund" genannt, dem er viel verdanke: "Anregung, Widerspruch, den Begriff von Einsamkeit, aber auch die Erkenntnis, daß Auschwitz kein Ende habe". Nach dem viel zitierten Wort Theodor W. Adornos aus dem Essay "Kulturkritik und Gesellschaft" (1951), das natürlich auch Celan und Grass kannten, sei es "nach Auschwitz [...] unmöglich" geworden, "Gedichte zu schreiben". Wie Celan zu diesem Verdikt Adornos stand, zeigt eine polemische Notiz im Umkreis des Bands "Atemwende": "Kein Gedicht nach Auschwitz (Adorno): was wird hier als Vorstellung von 'Gedicht' unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht, hypothetisch-spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu berichten". Damit wies Celan für seine Texte zwei gleichermaßen unangemessene Haltungen deutlich zurück: Zum einen, wie ein spätromantisch-sentimentaler Liedersänger unerschüttert weiterzudichten, als ob es die Zäsur Auschwitz nicht gegeben hätte; und zum anderen, naiv zu glauben, 'über' Auschwitz könne man berichten, also dem Geschehenen durch irgendeine Art von Abbildung gerecht werden.

Gleichwohl gehen die Meinungen vieler Intellektueller besonders darüber auseinander, wie die später revidierte These Adornos zu interpretieren sei. War es ein generelles 'Verdikt' über Lyrik nach Auschwitz, ein spezielles 'Darstellungsverbot' oder bloß ein provokatives 'Diktum'? Gerade Adorno und mit ihm Celan hielten Gedichte nach Auschwitz für möglich, allerdings nur solche, die dem Leiden "Ausdruck" verleihen, der Vergangenheit gedenken und denen der Schmerz und die Wunde Auschwitz eingeschrieben sind - deshalb ist es fraglos auch sinnvoller, von einer Lyrik im Zeichen von Auschwitz zu sprechen und die missverständlichen Präposition 'nach' und 'über' gänzlich zu streichen. In diesem Zusammenhang ist es auch ratsam, Adornos Äußerung von 1951 im Zusammenhang mit dem gesamten Text zu sehen. In der längeren, geschichtsphilosophisch wie kulturtheoretisch fundierten Betrachtung spricht Adorno nach der Zäsur von Auschwitz der gesamten traditionellen Kultur, ihre Kulturkritik eingeschlossen, sein tiefstes Misstrauen aus: "Keine Gesellschaft, die ihrem eigenen Begriff, dem der Menschheit, widerspricht, kann das volle Bewußtsein von sich selber haben", heißt es da. Kulturkritik "teilt mit ihrem Objekt dessen Verblendung", denn indem sie sich geistig mit Kultur befasse und sich von ihr distanziere, lenke sie nur "vom Grauen" ab. Von dieser aporetischen Erkenntnis seinen Ausgang nehmend, schlägt Adorno ein dialektisches Verhalten vor, das sich weder "dem Geistkult" noch der "Geistfeindschaft" verschreibt: "Der dialektische Kritiker an der Kultur muß an dieser teilhaben und nicht teilhaben. Nur dann läßt er der Sache und sich selber Gerechtigkeit widerfahren". Erst in diesem Rahmen ist Adornos widersprüchliches Urteil zu verstehen, dass einerseits Gedichte - als Bestandteil von Kultur - nach Auschwitz "barbarisch" sind, andererseits aber auch die Kritik an Gedichten - im Sinn von Kulturkritik - fragwürdig ist.

Strukturell hat sich der paradoxe Gedanke, dass die Situation von Kunst nach Auschwitz zwar der Aporie anheim fällt, sie aber dennoch notwendig bleibt, um dem "Grauen" Ausdruck zu verleihen, bis in Adornos "Ästhetische Theorie" erhalten. Welche Sprache aber würde diesem "Grauen" überhaupt gerecht? Celan hat seit Mitte der 40er Jahre verschiedene, immer dringlichere Versuche unternommen, eine Antwort auf diese Frage zu finden, am deutlichsten fassbar in seiner Absage an das "schöne Gedicht" zugunsten der "graueren Sprache". Die Büchner-Preisrede "Der Meridian" und der Gedichtband "Atemwende" treiben diese Suche noch entschieden weiter. Die unheimliche Nähe zwischen "poésie pure" und menschenverachtendem Handeln, die erstmals in der "Todesfuge" zum Thema Celans wurde, wird im "Meridian" in aller Schärfe thematisiert. Am Ende findet sich das Paradoxon des Gedichts, das immer zugleich seine Unmöglichkeit, seine Ortlosigkeit mitreflektiert, das entsteht "im Lichte der U-topie. - Und der Mensch? Und die Kreatur? - In diesem Licht". Ein Sprechen am "Abgrund", "im Lichte der U-topie" kann nach Celan nur ein stockendes Sprechen beschnittener Sprache sein, ein Stottern und "Lallen" - in der letzten Zeile des Gedichts "Tübingen, Jänner" markiert durch die rätselhafte Wendung "Pallaksch. Pallaksch", die der umnachtete Hölderlin im Gespräch gern verwendete. Dem Wahn der Wirklichkeit antwortet eine Sprache, die sich den geläufigen Bedeutungszuschreibungen wie der Koinzidenz von Zeichen und Bezeichnetem entzieht und nun selbst wahnhaft wirkt.

In einer Passage aus der "Negativen Dialektik" (1966) nimmt Adorno seine 1951 formulierten Thesen wieder auf und revidiert sie zum Teil: "Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben". Die Kernfrage, ob "nach Auschwitz noch sich leben lasse", ebenso wie die Überzeugung, dass "alle Kultur nach Auschwitz samt der dringlichen Kritik daran" "Müll" sei, bleibt allerdings bestehen. Durch die Jahrzehnte hindurch blieben die Thesen Adornos, seine Korrekturen eingeschlossen, im unaufgelösten Widerspruch. Sie sind Ausdruck einer negativ-dialektischen Denkbewegung zwischen der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Kunst im Zeichen von Auschwitz: keine positive Synthese wird angestrebt, die Situation der Kunst bleibt für ihn paradox. Betont erklärt hat er nur, sein Verdikt über Gedichte sei nicht als "Verbot" gemeint gewesen, es habe vielmehr generell auf Kunst und Kultur gezielt, und das "Leiden" habe bei aller Gefahr ästhetischer Stilisierung nach wie vor "Recht auf Ausdruck". Und wie die Kunst aussehen sollte, die noch möglich war, hat Adorno nur bei ganz wenigen verwirklicht gesehen: Bei Samuel Beckett vielleicht, bei Franz Kafka und bei Paul Celan, über den er wohl schon immer, glaubt man Peter Szondis Ausführungen, einen Essay schreiben wollte: "Diese Lyrik ist", wie er in der "Ästhetischen Theorie" ausführt, "durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids. Celans Gedichte wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen. Ihr Wahrheitsgehalt selbst wird ein Negatives". Günter Grass rekapituliert in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung von 1990 Adornos etwa vierzig Jahre zuvor angestellte Überlegungen: "Es galt, den absoluten Größen, dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst den Regenbogen graustichig werden ließ. Und obendrein verlangt dieses Gebot Reichtum neuer Art: mit den Mitteln beschädigter Sprache sollte die erbärmliche Schönheit aller erkennbaren Graustufungen gefeiert werden. Das hieß, jene Fahne zu streichen und Asche auf Geranien zu streuen. Das hieß, mit spitzem Blei, der von Natur her für Grauwerte steht, quer über jene Wand, 'wo früher pausenlos / das grüne Bild das Grüne wiederkäute', als mein Gebot das Wort Askese zu schreiben".

Die triadische Konstellation Adorno-Celan-Grass ist zwar häufig konstatiert, jedoch niemals in den Fokus einer systematischen Untersuchung gerückt worden. Der südkoreanische Germanist Jin-Sok Chong hat sich dieser Aufgabe in einer Untersuchung gestellt, in der er "Möglichkeit[en] des Schreibens nach Auschwitz" - über einen Vergleich zwischen Grass' Lyrik, der "Blechtrommel" und dem Spätwerk Celans - in den Blick nimmt. Die Grundthese der Arbeit lautet, dass die "Blechtrommel" als "episches Pendant zu Celans Lyrik im Rahmen der Thematik Auschwitz" gelesen werden könne. Gleichzeitig wird gefolgert, dass den beiden Sprechweisen - "Grass' Offenheit und Celans Hermetik" - "ein systematischer Stellenwert im Sinne von Alternativen" zuzuschreiben sei. So fleißig Chong auch die deutsche Nachkriegsgesellschaft und ihre Literatur kontextualisiert, Grass' Lyrik und die "Blechtrommel" interpretiert und auch einige bedenkenswerte Überlegungen zu den späten Gedichten Celans anstellt, so ist die Wahl der beiden "ästhetischen Prinzipien" keineswegs glücklich. Während man über den Terminus "Offenheit" in Bezug auf Grass' Texte durchaus noch diskutieren kann, obwohl Chongs explizites Ausklammern der Überlegungen Umberto Ecos zum "offenen Kunstwerk" nicht hilfreich anmutet, ist die Etikettierung der späten Lyrik Celans als "hermetisch" nur als grober Missgriff zu werten. Dank der in den letzten Jahren vorangetriebenen Publikation verschiedener Brief-Wechsel Celans ist leicht zu erkennen, dass dieser kein Hermetiker (weder im Sinne der jüdischen Mystik noch in der Nachfolge Mallarmés oder Rimbauds), sondern vielmehr beständig an seiner konkreten Schreib-Gegenwart orientiert ist. Celan selbst hat die Zuordnung zur literarischen Hermetik strikt abgelehnt; gegenüber Klaus Voswinkel, der ihn 1964 in Paris besucht, sagt er: "Diese Gedichte sind überhaupt nicht hermetisch, sie sind offen. Alles in ihnen ist eigentlich ganz klar". Arno Reinfrank teilt in seinem Artikel "Schmerzlicher Abschied von Paul Celan" (in: die horen 16 [1971], 73) die diesbezügliche Aussage Celans mit: "[G]lauben Sie mir, bitte glauben Sie mir, meine Gedichte sind mit unmittelbarem Wirklichkeitsbezug geschrieben. Aber nein, das wollen sie nicht verstehen ...". Im Hinblick auf den Umgang mit den Texten Celans spricht Beda Allemann zu Recht von der Unmöglichkeit ihrer Definition bzw. Kategorialisierung.

Dementsprechend erscheint es sinnvoller, den mitunter dekonstruktiven Textbewegungen selbst nachzuspüren. Adorno hat in der "Negativen Dialektik" gefragt, "ob nach Auschwitz sich noch leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens [sic!] hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten". Paul Celan ermangelte offenkundig dieser überlebensnotwendigen Kälte. Schon am 23. Januar 1968 fällt seine Bilanz - auch und gerade durch die Verwendung des Futurs II - fatal aus: "Die nachzustotternde Welt, / bei der ich zu Gast / gewesen sein werde, ein Name, / herabgeschwitzt von der Mauer, / an der eine Wunde hochleckt." In den Texten Celans dessen 'Poetik der Wunde' freizulegen, erscheint wesentlich sinnvoller, als beständig die - sich mittlerweile im Kreis drehende - Etikettierung der Gedichte als 'hermetisch' nachzuschreiben.


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Jin-Sok Chong: Offenheit und Hermetik. Zur Möglichkeit des Schreibens nach Auschwitz: Ein Vergleich zwischen Günther Grass' Lyrik, der Blechtrommel und dem Spätwerk Paul Celans.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
400 Seiten, 56,50 EUR.
ISBN-10: 3631389671

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