Literarische Spurensuche nach Benno Ohnesorg

Zu Uwe Timms Biografie "Der Freund und der Fremde"

Von Antje KrügerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Krüger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Unbegreifliche, Unfassbare passiert: Ein Freund verstirbt, zu früh, durch eine Gewalttat. Dieses verstörende Szenario, das sich sprachlich kaum erfassen lässt, versucht Timm in seiner neuesten Erzählung in eine literarische Form zu übersetzen. Es handelt sich in "Der Freund und der Fremde" um keinen Unbekannten, sondern um Benno Ohnesorg, der nach einer studentischen Demonstration gegen den damaligen Schah von Persien am 2. Juni 1967 von einem Polizisten erschossen wurde, worauf Studenten in ganz Deutschland mit Protestmärschen reagierten. Auf Timm wirkte sich die schockierende Nachricht vom Tod des Freundes auf zweifache Weise aus: Die politische Empörung über den Skandal seines Todes resultierte bei dem jungen Autor wie bei vielen anderen Studenten seiner Generation in einer radikalen Politisierung und einem stärkeren Engagement in der Studentenbewegung. Daneben trat auch der Wunsch, über den Freund zu schreiben. Der Autor verschob das Projekt jedoch immer wieder und erst ein Brief der Witwe, der auf ungeahnte Spannungen in ihrer Freundschaft hinwies, löste eine erneute Beschäftigung mit Benno Ohnesorg aus. In "Der Freund und der Fremde" hat Timm eine späte Sprache der Erinnerung gefunden, mit der ihm nicht nur die Darstellung des fast unbekannten Lebens Ohnesorgs gelungen ist, sondern auch ein Porträt der frühen 50er und 60er Jahre der Bundesrepublik Deutschland.

"Es blieb aber der Vorsatz, die Verpflichtung, über ihn zu schreiben. Ein Erzählen, das nur gelingen konnte - und diese Einsicht musste erst wachsen -, wenn ich auch über mich erzählte. Wenn es mir gelingen würde, den Horizont der Erinnerung abzuschreiben [...], mit den Erinnerungen an Erlebtes und Gedachtes, an Gebärden und Symbole, an Imagination und Abstraktion". Gespannt folgt der Leser Timms "Erinnerungsarbeit", bei der er - wie schon in "Am Beispiel meines Bruders" - vorführt, dass die literarische Spurensuche nur über das eigene Ich erfolgen kann. In kunstvoll verknüpften Episoden, teilweise Anekdoten, schildert der Autor im nachdenklichen Ton die Geschichte ihrer Freundschaft und Erinnerungen an Benno Ohnesorg. Gleichzeitig erzählt Timm von der eigenen Kindheit und Jugend im Hamburg der 40er und 50er Jahre, seiner Ausbildung als Kürschner und der Zeit am Braunschweig Kolleg, wo er das Abitur auf dem 2. Bildungsweg nachholte und Benno Ohnesorg kennen lernte. Damit erfasst er auch das Lebensgefühl dieser Zeit, das heute beinahe vergessen ist: das komplizierte Verfahren, eine junge Frau oder ein Mädchen auf der Straße anzusprechen, ohne aufdringlich zu wirken, der elitäre Anspruch des Abiturs und Studiums, Timms Entdeckung des Cappuccino und Croissants in den 60er Jahren.

Berührungspunkte der Freundschaft zu Ohnesorg liegen dagegen in einem anderen Bereich; in einer intensiven Beschäftigung mit Literatur und Kunst und dem einen Wunsch: zu schreiben. Gemeinsam lesen sie die französischen Existenzialisten, arbeiten an einer literarischen Zeitschrift, experimentieren mit Sprache. "Der Freund und der Fremde" ist nicht nur die Geschichte einer Freundschaft, sondern auch eine Erzählung über die Faszination des Lesens und Schreibens, über das Eintauchen und Versunkensein in Sprache und die Suche nach dem eigenen sprachlichen Ausdruck. Kleine literarische Fundstücke und Entdeckungen sind die von Timm zitierten kurzen Essays und Gedichte Ohnesorgs, die sein schriftstellerisches Talent erahnen lassen. Nach dem erfolgreichen Bestehen des Abiturs verfolgte Timm den Schreibwunsch konsequent weiter, wohingegen Ohnesorg das Schreiben während seines Studiums der Romanistik in Berlin wieder aufgab; auch dieser Frage nach den Gründen des literarischen "Verstummens" Benno Ohnesorgs geht Timm in "Der Freund und der Fremde" nach.

In einzelnen, häufig auf wenige Details verdichteten Szenen gibt Timm diese Erinnerungen wieder, die ihn als Meister der literarischen Kurzerzählung ausweisen. Dennoch ist Timm in "Der Freund und der Fremde" kein "traditioneller" Erzähler im Sinne eines Fontane oder Storm. Er unterbricht den Fortlauf der Ereignisse immer wieder, um die eigene Recherche- und Erinnerungsarbeit zu kommentieren, Auszüge aus zeitgenössischen Dokumenten einzufügen, Gespräche mit Zeitzeugen und Angehörigen zu zitieren und Fotografien zu beschreiben. Damit verbindet Timm fiktionales und faktenbezogenes Erzählen, das dem Genre "Biografie" innovative Züge verleiht. Dennoch entkommt auch Timm der Falle der "Subjektivität" nicht, da vor allem Timms eigene Erinnerungen gelegentlich zur Verklärung neigen. Durch die Montage unterschiedlicher Textsorten wie der Dokumente und Interviews gelingt es ihm jedoch, zusätzliche Perspektiven auf die Umstände von Benno Ohnesorgs Tod zu eröffnen, die "Der Freund und der Fremde" in ein polyfones Gefüge verwandelt. Insbesondere die Interviews mit Zeitzeugen enthalten bemerkenswerte Kommentare zur Auswirkung von Ohnesorgs Tod auf die Studentenbewegung wie auch auf die Angehörigen, die in dieser Form zum ersten Mal nachgelesen werden können.

"Die Toten erinnern uns an unsere Versäumnisse, Fehler, Verfehlungen. Die Toten sind unsere Wiedergänger." Die verbliebenen Fragen Timms treiben die Erzählung voran: die Frage nach dem literarischen Verstummen Benno Ohnesorgs, die von seiner Witwe angedeuteten Spannungen. Da ist die Rede von der fast vergessenen Haltung der "indifférence" - Freiheit durch Ungebundenheit - des französischen Existenzialismus als Leben im "Hier und Jetzt", der auf das kulturelle Leben der 50er Jahre in der jungen BRD einen starken Einfluss hatte. Diese Haltung, der sich auch Timm verpflichtet fühlte, führte zum Abbruch der Freundschaft nach dem erfolgreichen Bestehen des Abiturs, damit der "Horizont frei war und etwas ganz und gar Neues begann", der Freundschaft zu Benno Ohnesorg jedoch viel zumutete. Gerade an diesen kurzen Sätzen und Bemerkungen lässt sich Timms literarisches Vorgehen erkennen, das viele seiner Texte auszeichnet: von der persönlichen Erfahrung ausgehend, richtet er sein Interesse auf längst verschüttete, historische Bedingungen und rückt sie wieder in das kollektive Bewusstsein der Leser. In "Der Freund und der Fremde" handelt es sich um die vergessene Geschichte Benno Ohnesorgs, aber auch um die Wirkung des französischen Existenzialismus auf das intellektuelle Klima der frühen Bundesrepublik, das damit das Lebensgefühl einer ganzen Generation prägte.

Erinnert die Form und das Anliegen des Textes - eine "un-erhörte" Geschichte zur Sprache zu bringen - an Lektüreerlebnisse aus "Am Beispiel meines Bruders", geht Timm in seiner neuesten Erzählung einen Schritt weiter: Er kommentiert nicht nur den eigenen Recherche- und Erinnerungsprozess, sondern stellt sich auch die Frage - und darin liegt die Faszination, die der Text ausübt -, wie sich poetische Sprache dem Unbegreiflichen, der Erfahrung des Todes, annähern kann. Timms Überlegungen führen zu einer Reflexion des Schreibens und Lesens, die sich neben seinen Recherchen zu und Erinnerungen an Benno Ohnesorg als spannende Poetologie lesen lässt und Einsicht in Timms Schreibverfahren erlaubt. Zugänge zur Erinnerung findet Timm über alltägliche Dinge, die persönliche Geschichte beinhalten. Diesen Spuren folgt er im Prozess des Schreibens, die nicht einfach notiert, sondern "gefühlt und wirklich werden."

"Der Freund und der Fremde" leistet "Erinnerungsarbeit" im doppelten Sinn: Timm erinnert an Benno Ohnesorg und den politischen Skandal seines Todes wie an den gesellschaftlichen Kontext am Ende der Wirtschaftswunderzeit und die Vorbedingungen der Studentenbewegung. Dafür verwendet er eine anschauliche, sinnliche Sprache, die den verlorenen Freund für den flüchtigen Moment des Lesens und Schreibens im Medium der Sprache zurückgewinnt.


Titelbild

Uwe Timm: Der Freund und der Fremde.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
173 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3462036092

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