Ein Pfad durch Luhmanns Labyrinth

Zur überarbeiteten Neuauflage "Luhmann zur Einführung" von Walter Reese-Schäfer

Von Roland KroemerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roland Kroemer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die älteren Einführungen in Luhmanns Werk hatten durchweg einen wesentlichen Mangel: Sein soziologisches Hauptwerk lag noch nicht vor." Mittlerweile ist die "Gesellschaft der Gesellschaft" (1997) erschienen - Anlass für Walter Reese-Schäfer, sein Buch "Luhmann zur Einführung" vollständig zu überarbeiten. Wie viele andere Titel der Junius-Reihe, in der seit über zehn Jahren Soziologen, Philosophen und Schriftsteller auf 100 bis 200 Seiten vorgestellt werden, hinterließ die Erstausgabe von 1992 einen ambivalenten Eindruck. Einerseits ermöglichte sie den raschen Überblick über die Kernthesen der Systemtheorie und gehörte daher auch heute noch zu den populärsten Monographien zum Thema. Anderseits drohten Transparenz und Stringenz der Argumentationsführung zugunsten der allzu gedrängt dargestellten Teilaspekte verloren zu gehen. Vor diesem Hintergrund wird die Lektüre der Neuauflage auch unter dem Gesichtspunkt interessant, inwieweit eine Überarbeitung frühere Mängel beheben konnte.

"Wenn man Luhmann gerecht werden will", konstatiert Reese-Schäfer im Vorwort, "so muß man sich an der Architektonik der Gesamtkonzeption orientieren". Nicht zuletzt um die eigene Kapitelfolge plausibel zu machen, unterteilt er Luhmanns Theoriegebäude in vier einzelne Werkkomplexe: 1) in das systematische Werk, ausgehend von den "Sozialen Systemen" über die Analysen einzelner Funktionssysteme bis hin zur "Gesellschaft der Gesellschaft"; 2) in die historisch-semantischen Analysen, gesammelt insbesondere in den vier Bänden "Gesellschaftsstruktur und Semantik I - IV"; 3) in die politisch-soziologischen Analysen und 4) in die Organisationssoziologie. Trotz Reese-Schäfers Betonung, der Aufbau seiner überarbeiteten Einführung orientiere sich an diesen vier Werkkomplexen, befasst sich doch die Mehrzahl der Kapitel mit dem systematischen Werk Luhmanns. Die anderen Gebiete werden lediglich gestreift oder, wie im Fall der Organisationssoziologie, ganz ausgeklammert. Die Neuauflage folgt weniger der angeführten Vier-Felder-Matrix als vielmehr der alten Konzeption.

Nur im zweiten Kapitel weicht Reese-Schäfer grundsätzlich vom ursprünglichen Konzept ab. Anstelle der Ausführungen zur oft behaupteten Unverständlichkeit Luhmanns (aufgrund der systemtheoretischen Terminologie), die in der ersten Auflage den nachfolgenden Überlegungen als eine Art Warnung und Mahnung zur Geduld vorangestellt waren, beginnt er diesmal mit dem "Schlußstein der Theoriekathedrale", mit Luhmanns "Gesellschaft der Gesellschaft". Polemisch läßt sich sagen, Reese-Schäfer habe mit diesem Kapitel ein Paradebeispiel erwähnter Unverständlichkeit geliefert. Der Versuch, die Argumentationslinie eines über tausendseitigen Werks auf knapp 25 Seiten zu skizzieren, oder besser: abschnittsweise zu paraphrasieren, muss scheitern. Zu komplex, zu vielschichtig ist Luhmanns universale Gesellschaftstheorie, deren Implikationen eben erst vor dem Hintergrund der früheren Werke deutlich werden. Einem Leser, der am Anfang einer Auseinandersetzung mit der Systemtheorie steht (und an wen sonst richtet sich eine Einführung?), müssen die Erläuterungen unverständlich, zumindest zusammenhanglos erscheinen. Es ist paradox: Erst wenn man Luhmanns Hauptwerk kennt, wird Reese-Schäfers Vorgehen einsichtig.

Dabei sind die Ausführungen an manchen Stellen so vage, dass sie missverständlich, wenn nicht falsch werden. So beschreibt Reese-Schäfer das Konzept der strukturellen Kopplung, durch die das (operativ geschlossene) Kommunikationssystem mit seiner Umwelt verbunden ist, geht aber mit keinem Wort auf das Bewusstsein ein. Luhmanns zentrale Prämisse, dass das soziale System ausschließlich mit dem psychischen System strukturell gekoppelt ist und deshalb durch kein anderes Umweltsystem, etwa das biologische, direkt irritiert werden kann, bleibt daher vorerst unverstanden. Auch die anderen Ausführungen zur "Gesellschaft der Gesellschaft" müssen unverständlich bleiben, da Reese-Schäfer entscheidende Begriffe zwar verwendet, sie aber erst zu spät erklärt.

Gerade deshalb erscheint es problematisch, dass die anschließenden Darstellungen der Zentralbegriffe "System", "Sinn" und "Autopoiesis", die in der ursprünglichen Fassung fast 20 Seiten einnehmen, um mehr als die Hälfte gekürzt worden sind. Der mögliche Hinweis auf die Zwänge einer erfolgreichen Verlagskalkulation (die Neuausgabe ist zum Preis der Erstausgabe erhältlich) mag zwar eine Erklärung für solch rabiate Streichungen sein, macht sie aber kaum weniger fragwürdig.

Weitgehend unverändert geblieben sind hingegen die drei darauffolgenden Kapitel: die Ausführungen zu Luhmanns "Liebe als Passion" als besonders populäres Beispiel der historisch-semantischen Analysen; die Darstellung von George Spencer Browns Formenkalkül ("Draw a distinction!"), auf dem das systemtheoretische Konzept der Beobachtung beruht; und die Erläuterungen zum Buch "Soziale Systeme", mit dem Luhmann 1984 (nach dem autopoietischen Paradigmenwechsel) den Grundstein seiner Gesellschaftstheorie gelegt hat. Vor allem dieses Kapitel zeigt, dass es durchaus möglich ist, die Kerngedanken der Systemtheorie auf wenigen Seiten umrisshaft, aber anschaulich darzustellen. Im Gegensatz zum Kapitel über die "Gesellschaft der Gesellschaft", das wegen seiner Komplexität eher an das Ende der Einführung hätte gestellt werden sollen (was ja auch der Luhmannschen Architektonik weit mehr entsprochen hätte), unternimmt Reese-Schäfer hier gar nicht erst den Versuch einer vollständigen Inhaltsangabe. Er konzentriert sich auf die zentralen Theoreme und unterstreicht deren Bedeutung durch interdisziplinäre Verweise auf andere Forschungsrichtungen wie die Kybernetik, die Informatik oder die Neurophysiologie.

Zu einem tieferen Einblick in die Systemtheorie verhelfen die anschließenden vier Kapitel, in denen Reese-Schäfer - anders als noch in der Erstauflage - die ausdifferenzierten Funktionssysteme Politik (auf der Grundlage eines bislang unveröffentlichten Manuskripts Luhmanns), Religion, Kunst und Moral vorstellt. Dabei sind vor allem die Ausführungen zum Kunstsystem, das in der ersten Fassung noch ausgeklammert war, aufschlussreich. Moderne und postmoderne Kunst sind für Luhmann zur "Weltkunst" geworden. Ihre Aufgabe besteht darin, den Rezipienten an seine stets eingeschränkte Beobachterposition zu erinnern und dadurch den Relativismus jeder (Lebens-) Einstellung zu offenbaren. "Der damit verbundene tatsächliche psychische Gewinn mag so gering sein, dass viele auch ganz gut ohne Kunst leben können. Wer aber einen ästhetischen Sinn hat, der kann sich hier die Welt als ontologischen Sachverhalt dekonstruieren lassen in die Multivarietät des ästhetischen Scheins."

Das Schlusskapitel ist der Kontroverse zwischen Niklas Luhmann und Jürgen Habermas gewidmet. Auch wenn es mit Blick auf die Kapitelfolge nicht ganz einleuchten will, weshalb Reese-Schäfer seine Einführung mit dieser über 20 Jahre zurückliegenden Debatte beendet, ist es doch zu begrüßen, dass den systemtheoretischen Ausführungen in Form der Frankfurter Schule eine kritische Position gegenübergestellt wird. Für Luhmann freilich waren die von Habermas vorgebrachten Einwände gegen die "Sozialtechnologie", jene "Hochform eines technokratischen Bewußtseins", leicht zu entkräften. Wiederholt zeigte er in seinen Repliken die letztlich nicht begründbaren Prämissen einer sozialkritischen Position, deren programmatische Unterscheidung zwischen Kritik und Affirmation bei nüchterner Betrachtung nicht mehr sei als "ein spezifischer Fall von Blindheit". Luhmann in einem Interview: "Ich gewinne, was man bei einer guten Kontroverse müßte, eigentlich nicht viel bei der Lektüre von Habermas."

Es ist einer der Vorzüge von Reese-Schäfers Einführung, dass er die von Habermas und anderen erhobenen Kritikpunkte zwar nennt und den Antworten Luhmanns gegenüberstellt, sich mit der eigenen Meinung aber weitgehend zurückhält. Nur an wenigen Stellen verläßt er die Position des Unparteiischen und formuliert selbst Kritik. Dass diese Einwände, schon aufgrund ihrer Kürze, eher Denkanstöße als wirkliche Argumente sein können, liegt auf der Hand.

Manchmal sind Reese-Schäfers vorgebrachte Bedenken derart vage und oberflächlich, dass sie zumindest einer Präzisierung bedürften. So kritisiert er beispielsweise Luhmanns Anspruch, das Identitätsdenken der "alteuropäischen" Tradition von systemtheoretischer Warte aus zu beobachten, also auf Kommunikation umzuschreiben: "Das seinsorientierte und seinsgläubige Alltagsdenken mag naiv sein, bei dessen Umkehrung, der zufolge es nur Kommunikationen gibt, handelt es sich jedoch nur um die etwas raffiniertere und dem Common sense schwerer nachvollziehbare Spielart einer auf den Kopf gestellten Naivität. Letztlich gilt hier der Satz: Wer im Kern seiner eigenen Theorie den Widerspruch zuläßt, kann alles behaupten." Natürlich ist dies eine allzu grobe Simplifizierung der Differenzlogik - im Zentrum der Theorie steht eben kein bloßer Widerspruch! -, als dass Systemtheoretiker durch den Vorwurf ernsthaft bedrängt würden: Reese-Schäfers Polemik, bei der geforderten "Umschrift" (Peter Fuchs) handle es sich schlicht um eine "Naivität", wirkt selbst erstaunlich naiv.

Textstellen wie die eben zitierte zeigen die Grenzen von Reese-Schäfers Buch auf. Ob nun Erst- oder Neuauflage, die Überlegungen bleiben aufgrund des gesetzten Rahmens häufig oberflächlich, manchmal scheinen sie dem Niveau ihres Untersuchungsobjekts kaum gerecht zu werden. Unstrittig ist: Gerade wenn es um ein derart abstraktes und komplexes Theoriegebäude wie die Systemtheorie geht, können Einführungen - die hier besprochene, aber auch alle anderen - nur Wegweiser, allenfalls Pfade durchs Labyrinth sein.

Titelbild

Walter Reese-Schäfer: Niklas Luhmann zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 1999.
184 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3885063050

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