Erinnerungsnebel

Patrick Modiano und seine üblichen Gespenster

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde" - der Anfang des ersten Satzes seines achtzehnten Romans enthält bereits den ganzen Modiano: Das Nächtlich-Neblige, die Jugend und das Erinnern sind von jeher sein Ton und seine Themen.

Jene instabile Zeit um die zwanzig, als alles ungefiltert in ihn hineinfiel, Zeichen oder nicht - auf seinen einsamen Gängen in Paris versucht sie ein Mann an der Schwelle zum Alter wiederzufinden, in einem Jetzt, über das wir nichts weiter erfahren. Das Ungeordnete der Jugend hat jedenfalls noch immer die Macht, die seither sorgfältig errichtete Ordnung außer Kraft zu setzen - in Gestalt einer verrückten Alten oder schlicht von Erinnerungen.

Dieser Mann sucht die Spur einer Zeit, die selbst schon Spurensuche war nach der verlorenen, im Nebel versunkenen Kindheit, nach einem Halt oder nach Ereignissen, die etwas klären würden. Spät in der Nacht und gleichsam im Nebel also passiert ihm ein Unfall, die ersehnte Zäsur. Sein Suchen hat nun ein konkretes Ziel, die Unfallfahrerin. Sie wird zur schwer fassbaren Erlösergestalt, ihre Narbe im Gesicht erinnert diffus an Gutes in der Kindheit.

Gut an dieser Szenerie ist die spezielle Melancholie, die aus der Erzählhaltung des 'Vorbei' entsteht; das längst Vergangene wird im Perfekt aktualisiert: "Dieses Lächeln hat mich beunruhigt."

Gut ist die Verbindung von Erinnerung und Topografie. Orte verbinden Zeiten: Cafés, Hotels und Métrolinien sind die Proust'schen "Madelaines", die ein ganzes Lebensgefühl auferstehen lassen. Stadtteile können Menschen verändern - den sich entziehenden Vater trifft der Sohn in Cafés, die sich immer weiter vom Zentrum in die Peripherie verlagern, wobei der Vater immer abgenutzter, glanzloser erscheint, bis er schließlich ganz verschwunden ist.

Gut ist schließlich, wie Nebenfiguren und rätselhafte Randbeobachtungen für die Unerklärbarkeit der Welt stehen. Aber: Es ist ein bisschen zu viel Nebelwabern in all dem. Das Wort "Geheimnis" kommt dann doch zu oft vor. Zu häufig wird dem fragilen Jugend-Ich explizit ins Bewusstsein gelegt, was sich schwebend ergeben müsste. Das wirkt altklug und läuft dem Tastenden, Unbefestigten zuwider - anders als etwa in Modianos Erzählungen "Unbekannte Frauen" (deutsch 2002), in denen die Kommentarlosigkeit gelingt.

Auch sind einige Handlungsstränge zu vage, um noch glaubhaft zu sein: Zu wenige Anhaltspunkte gibt es zum verschwundenen Vater, als dass er interessieren könnte. Nicht richtig plausibel wird auch die Gesuchte, die über weite Strecken eher Mutterfigur zu sein scheint, dann aber erst 26 ist und das Jugend-Ich zu einem fleischlich-amourösen Happy-End führen soll - relativiert freilich durch das Nachhinein, in dem längst kein Kontakt mehr zu ihr besteht.

Ein typischer Modiano, aber ein durchwachsener. Der überzeugendste nicht.


Titelbild

Patrick Modiano: Unfall in der Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
144 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3446207163

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