Empirisch gestützte psychoanalytische Literaturforschung

Über eine vielversprechende Perspektive für die Kulturwissenschaften

Von Harald WeilnböckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Harald Weilnböck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Buch über einen kurzen Erzähltext von Robert Walser stellt der klinische Psychologe Marius Neukom ein innovatives Verfahren der empirisch-narratologischen und psychoanalytischen Literaturforschung vor. Die Arbeit bezieht ihren besonderen Reiz aus der Verbindung von Text- und Rezeptionsanalyse, wie auch aus dem konsequenten Bemühen um eine wirkungsvolle methodische Kontrollierung der Textauslegung. Damit freilich ist eine Ambition bezeichnet, die in den philologischen Textwissenschaften nicht nur kaum anzutreffen ist, sondern sich, soweit sie überhaupt eingebracht wird, häufig großem Unverständnis gegenübersieht. Denn die Geisteswissenschaften zeigen immer weniger Interesse, mit Psychologie und Psychoanalyse sowie den Handlungswissenschaften insgesamt zusammenzuarbeiten. Dies ist umso bedauerlicher, als Neukoms Anliegen kein geringeres ist, als einen Modus der tiefenpsychologisch versierten Erzählforschung zu entwickeln, der es erlaubt, in abgesicherter und transparenter Weise psychologische Schlüsse sowohl über mündliches als auch über mediales und fiktionales Erzählen zu treffen.

Neukoms Gegenstand ist Robert Walsers Mikrogramm "Beiden klopfte das Herz...". Er legt es vierzehn LeserInnen vor und befragte sie anschließend im narrativen Interview nach ihren persönlichen Reaktionen auf die Lektüre. Die systematische Typisierung der Reaktionen verdichtet Neukom grob auf zwei unterschiedliche Rezeptionsmuster, ein emphatisches Angesprochen-Sein vom und ein brüskes Ungehalten-Sein gegenüber dem Text, wobei sich in beiden Mustern spezifische Abwehr- und Ermöglichungsfunktionen mutmaßen lassen. Diese Verdichtung auf nur zwei Muster ist statthaft und zielführend, weil Neukom hier ausdrücklich nicht den Weg der medienbiografischen Sozialforschung über die hinzugezogenen LeserInnen verfolgt, was er bei einem etwas anderen Zuschnitt des Verfahrens auch hätte tun können. Demgegenüber dient dieser Auftakt im Feld der Leseforschung lediglich als heuristischer Impuls, um Hypothesen über die interaktionalen Mechanismen der Rezeptionssteuerung des Textes bzw. des Erzählers zu bilden. Diese werden dann jedoch nicht einfach mit der mutmaßlichen Textbedeutung kurzgeschlossen. Vielmehr führt Neukom separat und in methodisch eigenständiger Weise eine Erzähltextanalyse durch, die auf dem in der Züricher klinischen Narrativik entwickelten Verfahren JAKOB basiert. Dieser Vorgehensschritt ist von den Ergebnissen der Rezeptionsanalyse unabhängig und bezieht von ihr lediglich Leitfragestellungen, die in forschungsökonomischer Funktion sicherstellen, dass rezeptionsrelevante Gesichtspunkte des Textes und nicht nur idiosynkratische, intellektuelle Forschungsinteressen in den Blick kommen.

Indem Neukom zwei eigenständige methodische Anker wirft und - zunächst wenigstens - davon frei bleibt, die beiden Bereiche der Rezeptions- und der Textanalyse unziemlich zu vermengen, überwindet er eine konzeptionelle Schwäche so mancher bisherigen literaturpsychologischen Untersuchung, insbesondere das methodologische Transparenz-Defizit der Tiefenhermeneutik. Denn diese war zwar stets psychoanalytisch und gegenübertragungs-theoretisch fundiert, wie auch Neukom, d. h. es wird, ausgehend von Hartmut Raguse und Carl Pietzcker bzw. Alfred Lorenzer, die Annahme zugrunde gelegt, dass die RezipientInnen während der Lektüre eine komplexe mentale Beziehung des psychoaffektiven Austausches mit dem Text ausbilden - und, ich füge hinzu, indirekt wohl doch auch zum Autor (!) -, eine Beziehung, die beiderseits von psychischen Bedürfnissen und Funktionen geleitet ist und die interaktionalen Wechselwirkungen der so genannten psychoaffektiven Übertragung ins Werk setzen. Aber die Tiefenhermeneutik konnte häufig jenem Kurzschluss von subjektiver Lesereaktion und Textbedeutung nicht entgehen.

Dies ist nun die entscheidende Stelle, an der Neukom mit nicht geringem Aufwand das klinisch-psychologische Erzählanalyse-Verfahren JAKOB einsetzt. Hierbei erfolgt eine viele Dutzend Seiten einnehmende Sequenzierung des kurzen Erzähltextes in Subjekt-Prädikat-Objekt-Sequenzen. Deren anschließende narratologische Auswertung der Einzelsequenzen anhand basaler Kriterien der Form und der Interaktionsstruktur soll auch Rückschlüsse auf die auktoriale Konfliktdynamik sowie das Wirkungspotenzial der Erzählung ermöglichen. Sie wird mit dem Ziel unternommen, schrittweise, d. h. Sequenz für Sequenz die psychodynamische Erzähl- und Konfliktdynamik seitens des textuellen Erzählers zu ermitteln.

Eine dermaßen systematische und raumgreifende methodische Intervention mit empirischem Anspruch wird das Gros von PhilologInnen intuitiv als viel zu aufwändig und letztlich unangebracht empfinden. Dies rührt daher, dass für die Mainstream-Geisteswissenschaften andere als spekulativ-hermeneutische Vorgehensweisen genauso ungewohnt sind, wie sie ihrer im Grunde jedoch auch sehr bedürften. Denn ohne ein wie auch immer im Einzelnen beschaffenes Verfahren der methodischen Kontrolle, sprich: einer Triangulierung der hermeneutischen Interpretation, wird man in den Philologien jene Ebene von Humanwissenschaft nicht erreichen können, die jenseits der historischen Form- und Inhaltsbestimmung liegt und über bloß exegetische Bedeutungsanmutungen an den textuellen Gegenstand hinausgeht.

Wo immer also ein Verfahren der Sequenzierung und der methodenkontrollierten Hypothesenbildung eingesetzt wird, ist ein großes und noch gar nicht hinreichend wahrgenommenes Desiderat des geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens eingelöst. Nicht also weniger aufwändig muss das Verfahren werden. Es muss im Gegenteil eher noch weiter ausgebaut und in seinem methodischen Kontrolleffekt geschärft werden; und zwar schon deshalb, weil es Neukom offensichtlich nicht immer hinreichend davor bewahrt, im Einzelnen zu weitreichende und manchmal unzulässige interpretative Schlussfolgerungen zu ziehen.

Wenn Neukom z. B. folgert, dass des Erzählers Bekundung, er wolle "überdachtes und mit Belegen belegtes Dichten" hervorbringen, eine Ironie und Distanz enthält, ist dies unter Umständen plausibel, aber keineswegs zwingend; und methodenkontrollierte Hypothesenbildung lässt, zumal in den ersten, feinteiligen Arbeitsschritten, nur zwingende Schlüsse zu. Stark theoriegeleitete Schlüsse, wie z. B. der, dass ein sich abzeichnender figuraler Konflikt einen "ödipalen Triumphwunsch" und eine "Kastrationsangst" erkennen lässt, können natürlich nie ganz zwingend gemacht werden. Vollends versagt die methodologische Kontroll- und Schutzfunktion des Verfahrens z. B. bei Feststellungen dergestalt, dass in bestimmten Textsequenzen die Trennung von erzähltem Vorgang und Erzählvorgang "mangelhaft" sei; denn ein geeignetes Evaluationskriterium hierfür ist gar nicht absehbar und wird auch nicht gegeben. Und wenn der Interpret sich an einigen wenigen Stellen dazu hinreißen lässt, in Bildern des Walser-Textes "abgegriffenen Kitsch" und "gefühlsduselige Romantik" zu sehen, hat er den Rahmen einer methodenkontrollierten Hypothesenbildung endgültig verlassen und ist flugs auf die Ebene der persönlichen Gegenübertragung gewechselt, die freilich auch analysiert werden müsste.

Umso erfreulicher ist, dass Neukoms Arbeit in ihrem Ergebnis hiervon letztlich so weitgehend unbeeinträchtigt bleibt. Auch gibt es zum Versuch der Entwicklung von methodenkontrollierten, interaktionsanalytischen Interpretationsverfahren in den Literaturwissenschaften aus oben genannten Gründen keine Alternative. Und dass eine solche Verfahrensentwicklung nicht schon weiter vorangeschritten ist, weil die Philologien noch nicht sehr weit darin gekommen sind, sich handlungstheoretisch zu positionieren, hat der klinische Psychologe Neukom zu allerletzt zu verantworten.

Insgesamt zieht Neukom den durchweg überzeugenden Schluss, dass der im Text angelegte Erzähler zu den LeserInnen eine Beziehung von der Struktur der Doppelbindung anbahnt. Dies tut er, indem er eine filigrane Dynamik des konfusen Hin-und-Her von thematischen Verführungen und Erzählverweigerungen einsetzt, wie auch mittels einer beinahe unentwirrbaren Vermengung der Ebenen des erzählinhaltlichen Geschehens und des Erzählvorgangs. Dadurch sind den LeserInnen unvermerkt große, manchmal untragbare Anstrengungen aufgebürdet. Sie entstehen zum einen aus dem hohen Maß an Orientierungsschwierigkeit und zum anderen aus den damit verbundenen psychodynamischen Affektübertragungen, die unwillkürlich vom Autor über den Text auf die LeserInnen übertragen und von diesen ausgehalten werden müssen. Das gilt umso mehr, wenn die Intensität der Affekte - wie bei Walser - den Grad erreicht, der dem Spektrum von projektiv-identifizierenden Angst-, Aggressions- und Abwehraffekten entspricht, denn dies mag auch Affektstärken wie die einer Angst vor einem psychotischen Zusammenbruch mit einschließen.

In diesem Theorierahmen stellt Neukom die psychoaffektive Interaktionsdynamik, die von Robert Walsers Text ausgeht, in Analogie zu einer stark konflikthaft verlaufenden frühkindlichen "Urszene"-Beziehung. Einer narzisstischen Selbstobjektbeziehung vergleichbar, drängt dieses Beziehungsmuster unwillkürlich danach, sich im Rapport zwischen Text und Leser zu wiederholen, was im Grunde einen - wenngleich wenig aussichtsreichen - Versuch darstellt, endlich eine lösende Bearbeitung des Konflikts zu erfahren.

Durchweg plausibel ist auch Neukoms psycho-biografische Schlussfolgerung, die jedoch erst ganz am Ende des Buches gezogen wird und etwas undeutlich verbleibt. Denn die besonderen Herausforderungen, die der Rapport zwischen Text und Leser beinhaltet, sind bei diesem Schriftsteller insofern auch biografisch absehbar, als Walser, wie man weiß, mit ernsthaften psychopathologischen Lebensproblemen umzugehen hatte und sich längere Zeiten mit psychotischen Symptomen in psychiatrischen Kliniken befand. Weil nun Walsers psychische Bedrohtheit wie auch die Bandbreite der dadurch bedingten psychischen und interaktionalen Abwehrvorkehrungen unwillkürlich "ein Stück weit" in seine Texte einging, kommt es mitunter zu jenen schwer erträglichen Affektübertragungen auf den Leser. Umso begreiflicher ist, dass die eine Hälfte von Neukoms empirischen LeserInnen den Text irritiert und sogar entrüstet zurückwiesen, zumal wenn sie nicht durch einen spezifischen Literaturenthusiasmus vorgeprägt waren.

Dabei weist der Klinker Neukom entschieden diejenigen philologischen Stimmen in die Schranken, die sich befugt glaubten, die psychische Bedrohtheit Walser wenn nicht zu bestreiten, so doch unangemessen zu relativieren. Denn diese Exegeten entsprechen einer irreführenden geisteswissenschaftlichen Argumentationstradition, die in Pierre Bertaux ihr wohl prominentestes Beispiel gefunden hat. Bertaux nämlich legte die vielhundertseitig hergeleitete Mutmaßung vor, der - ebenfalls von psychotischen Phänomenen betroffene - Friedrich Hölderlin habe sich nur verrückt gestellt, um der politischen Verfolgung zu entgehen.

In Neukoms Arbeit liegt somit ein schlüssiger und vor allem handlungswissenschaftlich anschlussfähiger Beitrag zur Frage danach vor, wie eine schwerwiegende psychoaffektive Bedrängnis im Feld der ästhetischen Handlung zum Ausdruck finden kann und welche individuellen und auch kollektiven, gruppendynamischen Folgewirkungen und Bearbeitungsmöglichkeiten sich aus dergleichen ästhetischen Handlungen ergeben können. In ihrer Verbindung des psychoanalytischen Ansatzes mit dem Versuch, ein Verfahren der qualitativ-empirischen Hypothesenprüfung einzubringen, nimmt die Arbeit in der Literaturwissenschaft im Moment eine einzigartige und jedenfalls aussichtsreiche Position ein.

Was Neukom auf dem Weg zu seiner so trefflichen Schlussfolgerung kurzeitig ins methodische Straucheln gebracht hat, ist der genaueren Erschließung durchaus wert. Denn die Arbeit befindet sich an der Schnittstelle einer bisher weitgehend ungenutzten Zukunftsperspektive der Geistes- und Kulturwissenschaften: dem Ort der psychologisch versierten, handlungswissenschaftlichen Forschung über ästhetische und mediale Interaktion.

Ein erster Faktor dieses Strauchelns wird meines Erachtens deutlich, je genauer man in Betracht zieht, dass das, was Neukom an konzeptioneller Hilfe seitens der Literaturwissenschaften beigezogen hat, ihn in mindestens einer Hinsicht eher behinderte als dass es ihm geholfen hätte. Indem er nämlich das Konzept des dem Text impliziten Autors übernimmt - und dies scheint angesichts der Lage der Theoriediskussion beinahe unvermeidlich -, lädt er sich einige innergeisteswissenschaftliche Problemerbschaften auf, die er eigentlich gar nicht zu verantworten hat und ganz gewiss nicht nötig hätte. Die Einschätzung der Frage, wozu das Konzept des impliziten Autors eigentlich nütze ist, auch die Überlegung, ob nicht die wesentliche Funktion des "impliziten Autors" eine eigentlich wissenschaftsstrategische gewesen ist und darin bestand, den Philologien zu ermöglichen, weiterhin vom empirischen Autor wie auch von den empirischen LeserInnen absehen und weiterhin vorwiegend textwissenschaftlich und un-psychologisch bleiben zu können - dergleichen Fragen bedürfen eines eigenen Ortes.

Mit Blick auf Neukoms Arbeit, die immerhin die empirischen LeserInnen ansatzweise mit einbezogen hat, habe ich den Eindruck, dass er ohne das Konzept des impliziten Autors wesentlich besser gefahren wäre. Denn dieses zieht ihn zu sehr von der Person des empirischen Autors ab. Zwar geht Neukom - wenngleich kurz und an später, beinahe ausgelagert wirkender Stelle - auf die psychische und lebensgeschichtliche Situation der Person Robert Walser ein. Auch zieht er mitunter bereits in der Textanalyse den Schluss, dass ein "Abgleiten in einen psychotischen Zustand" zu gewärtigen war. Dies ist aber durchweg missverständlich auf den Erzähler bezogen; dabei kann doch ein Erzähler nicht psychotisch werden, wohl aber der Autor.

Die Ebenen des personalen Autors und der textuellen Erzählung sind also noch nicht hinreichend miteinander integriert, ein Wunsch, den man kaum an den psychologischen Promovierenden wird richten dürfen. Denn sogar die Altmeister der psychoanalytischen Literaturtheorie wussten ihn bisher nicht zu erfüllen oder auch nur als solchen zu erkennen und operieren nach wie vor mit dem "impliziten Autor". Allerdings mag dieses Manko auch eine Ursache dafür sein, dass Neukom etwas Wichtiges übersieht. Und diese Ausblendung hat eventuell auch mit der Konzentration auf die Theorieebene der Ödipalität zu tun - wodurch ein zweiter mutmaßlicher Faktor jenes methodologischen Strauchelns angesprochen ist. Denn der Schwerpunkt auf Ödipalitätsbegriffen setzt ein relativ hohes psychisches Funktionsniveau voraus, was angesichts von borderlinen und der psychotischen Phänomenen, mit denen bei Walser ja schon a priori zu rechnen wäre, nur eingeschränkt hilfreich ist.

Des Weiteren mag Neukoms eher ödipalitätstheoretischer Fokus auch dazu geführt haben, dass er das interaktionale und ästhetische Potenzial von Walsers Text im ganzen doch sehr pessimistisch, meines Erachtens zu pessimistisch einschätzt. Als ob er selbst noch im Banne des großen Übertragungsdrucks dieser Erzählung stünde, trifft Neukom die Feststellung, der Leser würde vor eine "unlösbare Verarbeitungs- und Verstandesschwierigkeit" gestellt und sei ein doppelt Ausgeschlossener. Das "Sprach- und Erzähllabyrinth" sei zwar ein "kunstvoll gefertigtes", nötige dem Leser aber ab, "zu verstehen, was nicht zu verstehen ist"; und dieses Lesen käme "einer Preisgabe an die Willkür und das Kontrollbedürfnis des Erzählers" gleich. Gleichzeitig wäre auch der Erzähler selbst, sowie "sein Produkt" - wessen Produkt eigentlich ist der Text? - "und auch der implizite Autor, dazu prädestiniert, vernichtende Kritik auf sich zu ziehen". Eine scheinbar in jeder Hinsicht fatale Interaktionssituation also!

Die ganz wesentliche andere Möglichkeit der interaktiven Wirkungsdynamik eines solchen Textes, die hier übersehen worden ist, hätte sich in nach-Freudianischer Perspektive leichter erschließen lassen. Während nämlich der dunkle Unlösbarkeits-Gestus von Neukoms Einschätzung offensichtlich der Freud'schen Ödipus-Theorie sowie den entsprechenden Theoremen von Urszene, Kastration, Analität und Sadismus geschuldet ist, kommt mit dem nach-Freudianischen bzw. präödipalen Theorem des therapeutischen Containment eine weitere, hellere Verstehensalternative in den Blick: Immer dort, wo die Affektübertragungen eine größere und schwerer erträgliche Heftigkeit annehmen und borderline oder prä-psychotische Intensitäten erreichen, ist der Therapeut besonders gefordert. Denn diese Affekte müssen trotz allem gutwillig aufgenommen und nach Kräften neutralisiert - d. h. contained - werden. Sie müssen sozusagen einer emotionalen Vorverdauung unterzogen und mental "entgiftet" werden, wie Wilfred Bion, ein Psychoanalytiker und Kognitionstheoretiker aus Freuds Zeiten, sagte. In der entgifteten Form können diese Affekte dann ertragen und dem Patienten zurückvermittelt werden.

Nichts anderes, als der Wunsch nach einem solchen psychotherapeutischen Containment wird den Erzähler bzw. den Autor Robert Walser letztlich bewegt haben. Und nichts anderes auch mag es vielleicht gewesen sein, was jener stattlichen Hälfte von Neukoms empirischen LeserInnen zu tun gegeben war, die sich ja keineswegs vor unlösbare Schwierigkeiten gestellt sahen, sondern mehr als leidlich mit dem Text zurechtkamen.

Neukom sieht dies zwar nicht, scheint aber am Ende seines einschlägigen Aufsatzes in der Zeitschrift "Psyche" eine Wendung dahingehend gesucht zu haben - bei der ihm jedoch ein weiteres Bein gestellt wird, das wiederum gleichermaßen literaturtheoretische wie Freudianisches Aspekte hat. Nachdem er neben allen Wahrnehmungen der Qual und Reibung des Walser-Lesens auch die Möglichkeit einer lustvollen Lektüre erkennt, die er jedoch noch etwas ingrimmig als ein Sich-schadlos-Halten bezeichnet, stößt er ausgerechnet auf den - implizit immer mit Lacan verbundenen - Begriff des Begehrens. Dies hat nun insofern eine fast tragische Note, als Neukom damit dem wohl schillerndsten und das heißt: doppelbindensten Begriff in die Arme läuft, den die Psychoanalyse zu bieten hat.

In Neukoms eminent aussichtsreicher und wichtiger Arbeitsperspektive der interdisziplinären Literaturforschung voranzukommen, wird also auch heißen, sich gegenüber bestimmten Segmenten seiner zwei tragenden Theorieressourcen abzusetzen: zum einen gegenüber der Literaturtheorie, die immer noch in erster Linie Texttheorie ist und nicht auch psychologisch informierte Handlungstheorie über AutorInnen und LeserInnen und ihr interaktionales Zusammenwirken werden will; und zum anderen gegenüber einer älteren, ödipalitätstheoretischen Psychoanalyse, die auf Fragen des innerpsychischen Konflikts konzentriert ist und darüber die Dimension des jeweiligen psychischen Strukturniveaus eines mentalen Phänomens sowie der Beziehungs- und Interaktionsmuster noch nicht genügend mit einbezieht.

Diesbezüglich gute Intuition beweist Neukom auch darin, dass er den Begriff der Double-bind-Kommunikation aufnimmt, der ja ein interaktionaler Begriff ist. Denn die Doppelbindung, die früher einmal ein beinahe geflügeltes Wort war, ist heute kurioserweise fast vollkommen aus den fachlichen Debatten und entsprechenden Handbüchern verschwunden. Dabei ist das von der so genannte Palo Alto Gruppe um den Kliniker und Schizophrenie-Forscher Gregory Bateson ausgehende Konzept der Double-bind-Kommunikation in Deutschland zuletzt noch von Thea Bauriedls so profunder Beziehungsanalyse in elaborierter Weise aufgenommen und im Kontext von Begriffen der Ambivalenz, Ambitendenz und psychischen Abspaltung, auch der Manipulation und Macht, modelliert worden. Mit Blick auf Neukoms Arbeit über den mitunter von schizophrenen Zuständen betroffenen Robert Walser erinnert man sich daran, dass die Double-bind-Kommunikation immer auch als möglicher schizophrenogener Faktor diskutiert wurde. Hier bieten sich also Möglichkeiten des wissenschaftlichen Anschlusses und der Konzeption von weiteren Forschungsprojekten, denen der gesamte Bereich der jüngern Untersuchungen über psychotische und borderline Formen der Interaktion offen steht.

Trefflich ist auch Neukoms Zurückweisung derjenigen Stimmen in Literaturbetrieb und -wissenschaft, die wie z. B. Dieter Borchmeyer mit großem Enthusiasmus und postmoderner Inspiration goutieren, wie sehr sich in Walsers Erzähltexten der Inhalt zugunsten der Form auflöst und wie alles so schön ins Flottieren gerät. Man wird Neukoms Verdacht gegenüber dem Literaturenthusiasmus einer älteren Prägung vielleicht noch weiter und auch ethisch zuspitzen können: Nicht nur nämlich wird in dieser emphatischen Inhaltsvergessenheit mit jubilatorischem Affekt von wesentlichen Erlebnisgesichtspunkten der dargestellten Szenen abgesehen. Die Form selbst wird bei weitem unterschätzt, insofern weder ihre verfängliche Suggestivität und Verstrickungskraft noch die sich in ihr indirekt ausdrückende menschliche Not erkannt und erschlossen wird.

Ein - professioneller - Leser, der aus seiner Situation einer relativ großen psychischen Stabilität heraus einzig die Formauflösung des Textes wahrnimmt, mehr noch: der dieser Formauflösung rein ästhetisch-geschmacklich huldigt, wird den in sich gebrochenen, wortreich und namenlos verzweifelten Appell des Autors an die Gemeinschaft seiner LeserInnen nicht erspüren; er wird dem Wunsch nach einer trotz allem mental-resonanten, empathischen Lesehaltung nicht erkennen. Demgegenüber gerät der postmodern enthusiasmierte Leser dahin, nolens volens, und sozusagen retraumatisierend, eher mit den fragmentierenden, ich- und erzähl-gefährdenden Kräften zu paktieren als mit den lösenden - um eines geschmacklichen, eventuell eigensüchtigen Kitzels willen. Psychologisch gesprochen, versäumt dieser - professionelle - Leser es, den Wunsch nach psychoaffektivem Containment wahrzunehmen, wodurch er dem sich gänzlich verweigernden Leser durchaus ähnlich wird. Und dabei bleibt freilich immer auch eine Möglichkeit der gemeinsamen, gesellschaftlichen Bearbeitung der sich erzählenden Not ungenutzt.

Alle Wissenschaft, die Literaturwissenschaft eingeschlossen, hat immer auch ethische Aspekte; diese genauer zu fassen, könnte eine nicht unwesentliche Nebenwirkung von interdisziplinärer, handlungstheoretischer Kulturforschung sein.


Titelbild

Marius Neukom: Robert Walsers Mikrogramm "Beiden klopfte das Herz...". Eine psychoanalytisch orientierte Erzähltextanalyse.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2003.
274 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3898062503

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch