Leben - Werk - Doppelleben

Zu Wolfgang Emmerichs neu erschienener Benn-Biografie

Von Carolina KapraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Kapraun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zum Benn-Jahr legt Wolfgang Emmerich eine neue Benn-Biografie in der Reihe "rowohlts monographien" vor und ersetzt damit die Standardbiografie Walter Lennigs, die seit ihrem Erscheinen 1962 über 20 Neuauflagen erlebte.

Unter dem Leitgedanken des "Doppellebens", einer spezifischen Differenz nicht nur zwischen dem Menschen und dem Dichter Benn, sondern auch zwischen bewusster und unbewusster Wahrnehmungsdisposition des Autors, versucht Emmerich die Biografie des Dichters nachzuzeichnen, wie auch dessen Werk einer biografisch orientierten Lektüre zu unterziehen - immer der eingangs aufgestellten These eingedenk, "die bedeutendsten literarischen Texte des Dichters [ließen] sich ohne Kenntnis des Biographischen nie befriedigend erschließen."

Der nicht immer gelungene Bezug auf das Werk vermittelt allerdings mitunter den Eindruck, als solle nicht die Biografie das Werk erhellen - das wäre immerhin ein methodisch praktizierter Zugriff -, sondern als solle umgekehrt auch das Leben aus dem Werk erhellt werden, ja als sei das Werk ein Spekulationshorizont für die biografische Darstellung. Trotz dieses als prekär zu bezeichnenden Defizits, das sich stellenweise manifestiert, gelingt es dem Autor dennoch, wesentliche Züge sowohl des Autors Benn als auch des Werks eindringlich zu korrelieren.

Vor allem Benns Tätigkeit als Arzt und sein wenn auch episodenhaftes nationalsozialistisches Engagement werden als zentrale biografische Prägungen beschrieben, die sich, sei es als Geisteshaltung, sei es als spezifisches "Wissen", als Vokabular, Motiv oder thematischer Bezugspunkt im Werk selbst wiederfinden lassen. Dabei versucht Emmerich das, was bei Lennig noch verstreut und punktuell auftaucht, systematisch zu fassen und räumt etwa dem geistesgeschichtlichen Bezug auf Nietzsches Konzept des Dionysischen ein ganzes Kapitel innerhalb der Biografie ein. Der Frage nach dem medizinischen Einfluss werden sogar mehrere Textteile gewidmet, wobei der Autor die für diese Frage relevante neuere Forschungsliteratur mit einbezieht. Auch erst seit Kurzem zugängliches Dokumentenmaterial wie die Korrespondenz Benns mit Thea Sternheim werden berücksichtigt.

Neben weiteren Fragen, wie z. B. nach dem "eklektizistischen" Schreibverfahren Benns oder der Wirkung und der Qualität der Öffentlichkeit, die dem Autor zu jeweiligen Schaffensphasen zur Verfügung stand, gilt Emmerichs besonderes Augenmerk der Zeit des nationalsozialistischen Regimes. Dabei geht er bei der Klärung der Frage, wieso sich Benn der NS-Diktatur zumindest für eineinhalb Jahre zuwandte, ideologiekritisch differenziert vor. Er macht Benns Annäherung vor allem vor dem Hintergrund "biologische[r] Ideologeme der Zeit" als ästhetische, weniger dezidiert politische, als "eschatologische Sehnsucht, das Verlangen nach einem plötzlichen Umschlag ins Heil" plausibel, wobei Benns tatsächlich nationalsozialistisch orientiertes Handeln etwa innerhalb der Preußischen Akademie der Künste weder entschuldigt noch beschönigt werden.

Weniger überzeugend ist Emmerichs Lektüre, wenn es um das Aufzeigen kunsttheoretischer Prämissen geht. Hier kommt er nicht immer zu schlüssigen Ergebnissen. Sein Vorgehen erweist sich über die Technik der assoziativen Verknüpfung bisweilen sogar als irreführend. Besonders die in den Text Emmerichs nahtlos eingefügten Zitate fallen auf. Zwar suggerieren sie einen Zusammenhang von Werk und Leben, jedoch werden sie als scheinbar "selbstsprechend" weder kommentiert noch weiter erklärt: "Zunächst begegnen noch Motive aus den frühen zehner Jahren [...] aber Benn musste sich eingestehen, dass Lyrik über diese Themen zu schreiben ihn in eine Sackgasse geführt hatte [...]. Stattdessen setzte Benn bei der bereits berührten Faszinationskraft des Einzelworts an. Er aktivierte seine Flimmerhaare [...], nicht nur am Gehirn, sondern über den Organismus total, um sich an Wörter mit erhöhtem Wallungswert heranzutasten [...]." Flimmerhaare? Wallungswert? Die dem Verfasser scheinbar so plausible Verwandlung Benns in einen dichtenden Einzeller, in einen "Organismus des unteren zoologischen Systems", leuchtet dem unbedarften Leser leider nicht so unmittelbar ein, wie er im Text präsentiert wird. Eine metasprachliche Auflösung dieser poetologisch weitreichenden Vorstellungskomplexe wäre hier sicherlich hilfreich.

Die kunstontologischen Schlüsse, die Emmerich hier wie andernorts zieht, erscheinen, da sie sich nicht ohne weiteres aus dem biografischen Material plausibel machen lassen und nicht diskutiert werden, zumindest hinterfragbar, bisweilen sicher auch kryptisch. Komplexe poetologische Metaphern des Autors können vor dem Hintergrund biografischer Fragen einfach nicht aufgelöst werden und bleiben in der Art "selbstsprechender Zitate" kommentierungsbedürftig.

Vor dem Hintergrund des selbst gesetzten Rahmens, eine Einführung in Leben und Werk des Dichters sein zu wollen, bleibt auch diese "rororo Monographie" allerdings ein lesenswerter und durchaus gelungener Band.


Titelbild

Wolfgang Emmerich: Gottfried Benn.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006.
160 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3499506815

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