Die hässliche Seite Europas

Ein neues Sachbuch zeigt das Scheitern der europäischen Einwanderungspolitik auf. Drastisch werden dabei die Grenzen des Humanismus auf unserem Kontinent beschrieben

Von Maik SöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maik Söhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Schätzungen des Roten Kreuzes sind rund 20.000 Menschen in den vergangenen zehn Jahren bei dem Versuch gestorben, Europa zu erreichen. Neun von zehn ertranken, als ihre in Libyen, Algerien oder Mauretanien gestarteten Boote kenterten, oder verdursteten, als die Boote nicht mehr zu manövrieren waren.

Aber anstatt dem Massensterben ein Ende zu setzen, sorgt die EU durch Kooperationsabkommen mit diesen Staaten dafür, dass die Kontrollen im Meer vor der nordafrikanischen Küste zunehmen, sodass immer mehr Flüchtlinge gezwungen werden, den Seeweg in Richtung Kanaren oder Südspanien von noch weiter entfernten Ländern zu wagen. "Nun starten die Boote auch mal aus dem Senegal oder aus Cote D'Ivoire", sagt die österreichischen Journalistin Corinna Milborn im Gespräch mit der literaturkritik.de. "Das ist doch Wahnsinn!"

Die Kooperationsabkommen verpflichten die europäischen Länder zur Zahlung von Geld und zur Bereitstellung von Technik und Infrastruktur. Vom Nachtsichtgerät bis zum Patrouillenschnellboot erhalten nicht gerade für ihre strikte Einhaltung der Menschenrechte bekannte Staaten wie Libyen oder Algerien alles, was sie benötigen.

Im Gegenzug richten sie auf ihren Territorien Lager ein, in denen die am Grenzübertritt gehinderten Flüchtlinge unterkommen müssen. Italien setzte vor drei Jahren in einem Geheimabkommen mit Libyen den Startpunkt zur Schaffung exterritorialer Lager und lieferte auch gleich neben anderem Material 1000 Leichensäcke an den neuen Partner. Das Beispiel hat Schule gemacht, demnächst errichten Mauretanien und die Ukraine ihre ersten Lager.

191 Millionen Menschen, das sind etwa drei Prozent der Weltbevölkerung, lebten im Jahr 2005 nicht in ihrem Herkunftsland. Diese Zahl kann man dem jüngsten Migrationsbericht der Uno entnehmen, ebenso den Hinweis, dass es mehr als ein Drittel von ihnen nach Europa verschlagen hat. Die OECD hinkt in der statistischen Auswertung noch ein Jahr hinterher, aber auch sie kann in ihrem neuen Migrationsbericht mit interessanten Zahlen dienen. Demnach sind 2004 drei Millionen Menschen legal in die hoch entwickelten Industriestaaten zugewandert, die meisten davon aus Rumänien und Polen in andere europäische Staaten.

Wer bisher zuverlässige Zahlen und Daten über Migration und Flucht suchte, musste sie sich bei der Uno, der Unesco oder der OECD selbst besorgen. Dank Corinna Milborn ist das nun ein wenig einfacher. Sie arbeitet als Chefredakteurin für die österreichische Menschenrechtszeitschrift 'Liga' und als Politikredakteurin beim Nachrichtenmagazin 'Format'. In ihrem Weblog www.festungeuropa.net sammelt sie viele Fakten und reichlich Material zum Thema, ergänzt es mit analytischen und kommentierenden Passagen und sorgt so für Überblick.

Dabei schreibt Milborn in ihrem Weblog gleichzeitig ihr Buch 'Gestürmte Festung Europa' fort, das Anfang Mai erschienen ist und zahlreiche Reportagen und Features aus Orten dies- und jenseits der europäischen Außengrenzen enthält. Zusammen mit dem Fotografen Reiner Riedler hat sie die Ballungspunkte und -wege der Migration nach Europa besucht: die Umgebung der in Marokko gelegenen, zur Flüchtlingsabwehr hochgerüsteten spanischen Exklaven Ceuta und Melilla; die Häfen kleiner Dörfer in Algerien oder Mauretanien, von denen aus sich täglich Tausende in winzigen Booten auf den Weg nach Südspanien, Süditalien oder auf die kanarischen Inseln machen; die Fluchtrouten von Menschen aus Mali oder Burkina Faso quer durch die Sahara nach Nordafrika.

Aber auch innerhalb Europas haben sich Milborn und Riedler umgesehen: in so genannten Auffanglagern auf Fuerteventura, auf Gemüseplantagen in Südspanien, in den Pariser Banlieues oder in Traiskirchen, wo das größte Asylbetreuungszentrum Österreichs steht. Die militärische Aufrüstung der europäischen Außengrenzen, schreibt Milborn, "die täglich Tote nach sich zieht, richtet sich gegen Menschen, die hier nichts anderes wollen als arbeiten. Jeder an der Grenze weiß, dass er in Europa innerhalb weniger Wochen Arbeit findet: Ganze Branchen hängen mittlerweile von der - faktisch geduldeten - Schwarzarbeit illegaler Einwanderer ab. Die Aufrüstung kann die Einwanderung daher nicht stoppen. Aber sie macht sie zu einem illegalen und viel zu oft tödlichen Unterfangen."

Dennoch überwinden immer wieder Flüchtlinge die Grenzen. Es sind die künftigen Billigjobber der Europäischen Union, die ohne jegliche Rechte in Südspanien als Landarbeiter, in Italien oder Deutschland als Putzfrauen oder Kinderbetreuerinnen, bzw. in Frankreich oder Österreich auf dem Bau und in der Gastronomie beschäftigt werden. Milborn glaubt nicht, dass das eine rationale Entscheidung der europäischen Politik ist. Sondern schlicht "ein Wegesehen, ein Dulden von Migration" zugunsten bestimmter Wirtschaftsbranchen, die ansonsten - wie etwa der Gemüseanbau und -handel nahe der spanischen Stadt Alméria - nicht wettbewerbsfähig wären.

Dieses Alméria bzw. die Region um die Stadt, die aus kaum etwas anderem als unter kilometerlangen Plastikfolien abgedeckten Tomaten, Gurken, Paprika und Zucchini besteht, haben sich Milborn und Riedler ganz genau angesehen. Es ist jenes Gemüse, das wir auch außerhalb der Saison günstig im Supermarkt beziehen können. Und günstig ist es, weil von den zur Düngung und Ernte eingesetzten 80.000 bis 90.000 Landarbeitern mindestens jeder Zweite illegal hier arbeitet. Aber von "Illegalen" spricht Milborn nicht gerne, sondern lieber von "Illegalisierten". Denn diese hätten gar keine Möglichkeit, legal zu arbeiten. Für acht bis zehn Stunden Arbeit, häufig unter Einsatz von Pestiziden, erhält einer dieser Arbeiter weniger als 30 Euro pro Tag.

Manchmal möchte auch der spanische Staat daran verdienen und legalisiert einige tausend von ihnen. Denn Steuern und Sozialabgaben zahlt nur, wer legal im Land ist. Die Legalen, das ist denn auch, neben Abgewiesenen und Illegalen, die dritte Gruppe, der sich Milborn und Riedler nähern.

In den Moscheen und Suburbs von London, vor allem aber in den Pariser Banlieues entstanden kurz nach den Krawallen vom vergangenen Herbst aus zahlreichen Interviews eindrückliche Porträts von Migrantinnen und Migranten. Obschon seit Jahrzehnten in Frankreich lebend oder sogar dort geboren und mit dem französischen Pass ausgestattet, bleiben die meisten von ihnen - im Buch heißen sie Briss, Metin oder Abdoulaye - deklassiert und ausgegrenzt.

Aber nicht nur die französische oder englische, auch die deutsche, österreichische und niederländische Integrationspolitik erklärt Corinna Milborn am Ende des Buches für gescheitert: "Die europäische Politik ist in den letzten Jahrzehnten blindlings in die Realität einer Einwanderungsgesellschaft gestolpert. Die Probleme, die sich daraus zwingend ergaben, wurden verdrängt oder als solche von 'Ausländern' gesehen, die man ja abschieben könne."

Statt diese Probleme offen anzusprechen und zu lösen, werde an der 'Festung Europa' gearbeitet, die sich nach innen und außen von Einwanderern abschotte. Europa müsse sich stattdessen endlich offensiv dem Umstand stellen, dass es Einwanderungsgebiet sei. Erst dann könnten überhaupt Problemlösungsstrategien erarbeitet werden.

Dass Milborns Buch sich von anderen Büchern zum Thema so wohltuend unterscheidet, liegt vor allem daran, dass sie und ihr Fotograf an die Akteure - egal ob Flüchtling, Schleuser oder Grenzbeamter - ganz nahe herankommen. Die Gesichter und Schicksale von Einzelnen werden hinter den Statistiken über millionenfache Flucht und Migration deutlich erkennbar.

Unaufdringlich, aber alles andere als distanziert erzählt die Autorin Alltagsgeschichten von Migranten. Und zwar so, als ob sie sie selbst erzählten. Jede ist anders, alle sind ähnlich. Den meisten von ihnen erschien Europa aus der Ferne einst als Ort der Hoffnung. Nun aber haben sie auch seine hässliche Seite kennen gelernt.

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist zuerst erschienen in der "Netzeitung". Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.


Titelbild

Corinna Milborn: Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto. Das Schwarzbuch.
Styria Verlag, Graz 2006.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3222132054

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch